Dauerbrenner Nachtlärm

In einer aufgeheizten Nachtlärm-Situation pfropft die Stadt ihrer Bevölkerung einen Versuch mit Ausweitung der Bewilligung für Aussenbewirtung über Mitternacht hinaus bis 2 Uhr nachts auf. Das wurde auch Zeit, finden die einen. Eine Schnapsidee sei das, sagen die anderen, die bereits heute unter Nachtlärm leiden.

Draussen sitzen, die laue Sommernacht geniessen, etwas trinken: wer möchte das nicht. Was man in den Ferien schätzt, sollte doch auch in unseren Gefilden möglich sein, besonders wo die Sommer immer heisser zu werden scheinen. Die Frage lautet: Wo, wie und bis wann soll das möglich sein?
Zwei Gemeinderäte, die selber weit ausserhalb der nachtaktiven Zone wohnen, haben vor drei Jahren in einem Postulat «mediterrane Nächte» für Zürich verlangt. Der Gemeinderat hat das Postulat mit grosser Mehrheit gegen Vereinzelte sowie Grüne und AL an den Stadtrat überwiesen. Die zuständige Stadträtin Karin Rykart beeilte sich mit der Umsetzung und stellte bald ein Konzept vor, nach dem ein Versuch mit solchen «mediterranen Nächten» ausgestaltet werden sollte. An sechs Wochenenden im Sommer 2020 sollten in der Innenstadt Gastwirtschaftsbetriebe bis 2 Uhr nachts auf ihren angestammten Aussenplätzen Gäste bewirten können.
Dagegen allerdings legte die Gruppe «Innenstadt als Wohnquartier» eine Einsprache ein. Darin argumentierte sie unter anderem, dass eine pauschale Erteilung von Ausnahmebewilligungen nicht rechtens sei. Sie hatte in der ersten Instanz Erfolg und unterlag zweitinstanzlich, was die Gruppe finanziell teuer zu stehen kam. In der Gruppe sind mehrere Quartiervereine und Gruppierungen vertreten, im Kreis 1 unter anderem der Quartierverein Zürich 1 rechts der Limmat (QVrdL) und der Einwohnerverein Altstadt links der Limmat. Ihr Sprecher ist Felix Stocker vom Vorstand des QVrdL, seit einem Jahr dessen Präsident. – Infolge aufschiebender Wirkung hat der Versuch mit verlängerten Ausschankzeiten im Freien 2020 nicht mehr stattgefunden, gefolgt ausserdem von einer Auszeit wegen der Corona-Pandemie. Pünktlich zu deren Abklingen im Frühling 2022 lag auch schon wieder die nunmehr geänderte Versuchsanordnung auf dem Tisch. Neu erfolgte keine Pauschalbewilligung, sondern konnten interessierte Gastrobetriebe um eine solche Bewilligung ersuchen. Ausserdem ist der Versuch nicht mehr auf die Innenstadt beschränkt, sondern findet auf dem ganzen Stadtgebiet statt. Vorbehalten bleibt die Teilnahme Betrieben, die bereits über bewilligte Boulevardplätze verfügen. Solche an besonders empfindlichen Lagen wie in Innenhöfen sind von der Teilnahme ausgeschlossen.

Betroffene in Sorge
Gemäss Felix Stocker blickt man dem Kommenden mit Sorge entgegen. Wohl können Anwohnende auch diesmal eine Einsprache machen. Diese muss sich jedoch gegen die Versuchsteilnahme eines konkreten Gastrobetriebs richten. Und, jetzt kommts: Insgesamt haben 159 Betriebe um eine Bewilligung ersucht, 63 davon allein im Kreis 1. Weitere 64 sind in den Kreisen 4 und 5 angesiedelt, gerade noch 32 verteilen sich auf die übrigen 9 Stadtkreise! (Sie alle sind aufgelistet in der Ausschreibung im Tagblatt vom 18. Mai 2022.)
Die Gruppe Innenstadt als Wohnquartier rechnet mit Kosten von 400 Franken pro Einsprache und stellt eine finanzielle Beteiligung in Aussicht. Damit steht man vor der ersten Instanz, beim Stadtrat. Sollte es zu einem Weiterzug kommen – die Zweitinstanz ist noch nicht bestimmt – ist mit weiteren Kosten zu rechnen. Somit ist klar: Auch wenn vielleicht bei einigen Betrieben eine Bewilligung verhindert werden kann, wird der Versuch über die Bühne gehen.
Wer in einem reinen Wohnquartier lebt oder von ausserhalb der Stadt kommt, mag sich auf die neuen Möglichkeiten freuen, wie die Mehrheit der zustimmenden Gemeinderätinnen und Gemeinderäte. Wer jedoch sein Schlafzimmerfenster oberhalb eines Restaurants oder einer Bar mit Verlängerung der Bewirtung an je sechs Freitagen und Samstagen bis um 2 Uhr nachts hat, dürfte weniger beglückt sein. Denn was wir doch so schätzen, ist das südliche Flair während der Ferien zu geniessen. Am folgenden Tag schreckt uns kein Wecker aus dem Schlaf, keine Erholung von der Arbeitswoche ist nötig, Familien mit Kindern wählen vorausschauend keine Gegend mit Rambazamba vor dem Haus als Feriendomizil. Weil dagegen die eigene Wohnung dauerhaften Charakter hat, stehen Interessenskonflikte bevor.

Wie laut es wohl wird?
Wenn man bedenkt, dass der Grossteil der Schweizer Bevölkerung im Alter bis 16 und über 30 Jahren vermutlich irgendwann zwischen 22 Uhr und Mitternacht zu Bett geht, erscheint der Versuch doch als gewichtiger Bruch eines bisher geltenden Tabus: Boulevardplätze, also solche im Freien, dürfen nur bis Mitternacht bedient werden. Die Realität zeigt natürlich, dass das ausgehfreudige Publikum zwischen etwa 16 und 30 Jahren sich nicht nach der Tagesschau ins Pyjama stürzt, sondern sich um 22 Uhr für den Ausgang aufbrezelt. Ob an gewissen, bereits heute übernutzten Plätzen die ausgedehnte Dauer der Bewirtung bis 2 Uhr eher zu einer Beruhigung der Lage führen wird? Und ob es an anderen, bisher nach Mitternacht ruhigen Ecken neuerdings laut wird? Oder ob sich im ersten Fall die Hebung des Lärmpegels nach der Schliessungsstunde im Freien einfach tiefer in die Nacht verschiebt? – Wir werden es erleben.

Rolle der 24-Stunden-Shops
Manche der beim Versuch mitmachenden Restaurants und Bars verfügen bereits über eine Bewilligung für verlängerte Öffnungszeiten in Innenräumen. Clubs starten ihr Geschäft zu später Stunde und unterhalten ihre Gäste bis zum Morgengrauen. Was auch nicht überall problemlos ist für die Nachbarschaft.
Was jedoch sowohl die Nachbarschaft wie Gastronomen umtreibt, ist die Rolle der zu später Stunde Alkohol verkaufenden sogenannten «24-Stunden-Shops» – die nicht zwingend 24 Stunden geöffnet haben. Hier deckt sich eine vornehmlich junge Käuferschaft mit Bier und Hochprozentigem ein, um vor dem Eintritt in den teuren Club «vorzuglühen», sich einen Alkoholpegel anzutrinken.
Dies geschieht natürlich irgendwo im Freien. Auf einem versteckten Plätzchen, auf einer Treppe, auf Sitzbänken. Also auf dem Predigerplatz, auf der Treppe der Predigerkirche, am Limmatufer am Limmatquai oder an der Schipfe, auf dem Lindenhof und so weiter. Zu den «Vorglühern», die dann in den Club abwandern, kommt natürlich eine grosse Zahl von besonders jungen Leuten, die sich den Club auch nach Erreichen des gewünschten Pegels nicht leisten können. Sie bleiben an den Aufenthaltsorten der Wahl bis um 2, 3 oder 4 Uhr und gehen erst, wenn die Wodkaflasche nichts mehr hergibt oder der Akku der Boombox leer ist. Um vielleicht nach einem Abstecher zu einem der besagten Shops zurückzukehren und weiterzumachen.
Einsätze von SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) und Polizei haben eine Wirkung, die leider oft genug nicht sehr lange anhält, manchmal nur, bis der ungebetene staatliche Besuch um die Ecke verschwunden ist. Hier treffen sich die Interessen der Anwohnerschaft und der Bars und Clubs interessanterweise für einmal. Beide streben danach, den nächtlichen Verkauf von Alkoholika durch solche «24-Stunden-Shops» einzuschränken oder gar zu unterbinden (was rechtlich und politisch nicht einfach zu erreichen sein dürfte). Denn diese Shops haben im Vergleich zu Gastronomiebetrieben einen viel geringeren Einfluss auf ihre Klientel, was das Einhalten von gewissen (Anstands-)Regeln angeht wie das Vermeiden von unnötigem Lärm und Abfall sowie das – pardon – Pissen und Kotzen im Freien. In dieser Frage sind ein Austausch und eine Zusammenarbeit von Quartiervereinen mit der Bar& Club-Kommission vorgesehen.
Als nächstes werden wir wohl Teil 1, den Versuch mit verlängerten Bewirtungszeiten erleben, der sodann, Teil 2, in einen permanenten Betrieb übergehen wird, wie das mit Pilotprojekten in der Stadt Zürich üblich ist.

Elmar Melliger