Labyrinth beim Grossmünster

Geplant war es auf das Jubiläum 700 Jahre Eidgenossenschaft im Jahr 1991, realisiert wurde es soeben, im Frühjahr 2023: Das Labyrinth auf dem Grossmünsterplatz.

Wer glaubt, wer ein Labyrinth betrete, gerate in einen Irrgarten, aus dem er oder sie kaum wieder herausfände, ist auf dem Holzweg. Das ist eine der ersten Lektionen, die lernt, wer sich mit Labyrinthen auseinandersetzt. Denn ein Irrgarten ist bewusst so angelegt, mit vielen Sackgassen, dass darin Wandelnde sich verirren. Dies mit Schrecken oder lustvoll, je nachdem, ob böse Absicht dahinter steckt oder man sich bei Sonnenschein in einem Schlosspark befindet. Wenn der Volksmund davon spricht, dass der historische Kern einer Stadt mit seinen Gassen ein Labyrinth sei, meint er auch eher einen Irrgarten. Wenn jemand sein Haus «Zum Irrgang» nennt und als Hauszeichen ein Labyrinth wählt, so das Beispiel einer historischen Liegenschaft an der Augustinergasse 4, ist das auch irritierend.
Klarheit dazu erhält, wer den Grossmünsterplatz aufsucht. Dort besteht seit kurzer Zeit, seit dem Frühlingsbeginn am 21. März 2023 nämlich, ein Steinlabyrinth. Ebenmässig verlegt mit etwas helleren als den umgebenden Pflastersteinen, siebengängig.

Ein weiter Weg
Lange Zeit mussten die Initiantinnen, eine Gruppe engagierter Frauen, sich gedulden, bis es so weit war. Im Jahr 1989 nämlich nahmen sie am Projektwettbewerb «Zürich morgen» anlässlich der bevorstehenden Jubiläumsfeier der Eidgenossenschaft teil. Ihr Projekt «Labyrinthplatz Zürich» sah zwei Labyrinthe vor. Eines im Zeughausareal hinter der Kaserne, provisorisch angelegt mit Pflanzen. Und ein Steinlabyrinth neben dem Grossmünster, auf dem Grossmünsterplatz, wo (nicht nur) die Initiantinnen einen Kraftort sehen. Ihr Projekt wurde prämiert und erhielt vom Stadtrat die nötige Unterstützung zur Realisierung. Im Zeughausareal begann man mit der Bepflanzung und erhielt so ein Labyrinth, das in unzähligen Stunden Arbeit, Fronarbeit das meiste, bis heute Bestand hat.
Das Labyrinth auf dem Grossmünsterplatz dagegen wurde einstweilen für die Dauer eines Jahres nur aufgemalt, um den Gang der Dinge zu beobachten. Denn der Grossmünsterpfarrer Werner Gysel und mit ihm die Kirchenpflege leisteten zusammen mit Anwohnenden Widerstand gegen das Projekt. Ihnen waren die begleitenden Veranstaltungen mit Musik zu unterschiedlichen Tageszeiten ein Dorn im Ohr. Weshalb die Stadt nach Ablauf des Jahres darauf verzichtete, das Steinlabyrinth zu bauen. Enttäuscht begnügten sich die Initiantinnen mit dem Pflanzenlabyrinth, das sich bis heute grosser Beliebtheit erfreut.

Ein neuer Anlauf
Die Enttäuschung der Initiantinnen hat immer wieder angeklungen. Deshalb hat sich eine Gruppe um die Altstadtbewohnerin Anna Leiser zunächst an den Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist gewandt, der die Idee eines Labyrinths auf dem Grossmünsterplatz sofort unterstützte. Er sah in der Nähe zum Grossmünster kein Problem, im Gegenteil. Existieren doch viele Labyrinthe in der Nähe von Kirchen oder auch in deren Innern. Prominentes Beispiel dafür ist dasjenige in der Kathedrale von Chartres. Mit dieser Unterstützung öffneten sich bei der Stadt verschlossene Türen, neue Verantwortungsträgerinnen und -träger waren dem Projekt wohlgesinnt. Und so rückte nach etlichen Sitzungen und Abklärungen die späte Realisierung des Projekts in den Bereich des Möglichen.

Feierliche Eröffnung
Pünktlich zum Frühlingsanfang, am 21. März 2023, konnte das Labyrinth auf dem Grossmünsterplatz eingeweiht und der Öffentlichkeit übergeben werden. Zur Feier sind eine Vielzahl damaliger – vor über dreissig Jahren also – und heutiger Mitwirkender erschienen. Natürlich die ursprünglichen Initiantinnen Rosmarie Schmid und Agnes Barmettler sowie die weiteren Vorstandmitglieder des heutigen Vereins Steinlabyrinth Zita Küng, Anna Leiser und Cornelia Weber. Darüber hinaus etwa die früheren Mitglieder des Stadtrats Monika Stocker, Ruedi Aeschbacher, Richard Wolff und die heutige Vorsteherin des Tiefbau- und Entsorgungsdepartements, Simone Brander. Nach den feierlichen Ansprachen erhielt eine ganze Anzahl von Menschen einen Blumenstrauss überreicht, darunter auch, ein schönes Zeichen, die Arbeiter, die das Steinlabyrinth gesetzt haben.

Der Weg ins Innere
Der Umgang mit dem Steinlabyrinth an Zürichs prominentester Lage soll ein anderer sein als der im Pflanzenlabyrinth. Sind dort nämlich viele Aktivistinnen anzutreffen, die Rituale feiern, sind beim Grossmünster weder Rituale noch Veranstaltungen geplant. Hier wählen die Initiantinnen mit Blick auf die Umgebung einen stillen Zugang zum Labyrinth.
Ja und wie begeht man denn nun ein solches Labyrinth? Dieses ist so angelegt, dass es einen einzigen Weg gibt – und man sich nicht verirren kann. Dieser führt zunächst ins Innere, zum Zentrum. Und dann geht es auf dem gleichen Weg zurück. Den Gang ins Innere kann man sich vorstellen als Weg zu sich selbst, zur eigenen Mitte, zum Wesentlichen. Und der Weg zurück führt vom Inneren nach aussen, es öffnet sich alles wieder hin zur Welt, zur Um- und Mitwelt.
Bei einem Selbstversuch ist zu erleben, wie im richtigen Leben, dass der scheinbar so direkte (Lebens-) Weg zunächst eine Windung machen kann, um sich dem Ziel anzunähern, um sich abermals zu entfernen und wieder anzunähern…
Und hat man zuvor das Labyrinth vielleicht selbst schon mal gedankenversunken auf direktem Weg überquert, so sieht man sich, während man es begeht – unterwegs zum Wesentlichen, zu seinem Lebensmittelpunkt – mit einem Male gestört, wenn beispielsweise eine Touristengruppe achtlos über das Labyrinth trampelt.

Elmar Melliger


Das Labyrinth ist begehbar von Montag bis Sonntag von 0 bis 24 Uhr.