Wer Weihnachten feiert, feiert Zukunft

Unsere diesjährige «Weihnachts­geschichte» hat Johannes Block ­verfasst, Pfarrer am Fraumünster. Er hat einen Spaziergang durch die weihnachtlich erleuchteten Gassen unternommen und lässt uns teil­haben an seinen Gedanken.

«Das ist ja wie der Sternenhimmel!», riefen Freunde begeistert, als wir in der Adventszeit durch die Zürcher ­Altstadt spazierten. Tausende Lichter funkelten über unseren Köpfen. Es war eine grosse Freude, meine Gäste aus dem Ausland durch die weih­nachtlich geschmückten Altstadtgassen zu führen. Vor allem die Lichterketten an der Bahnhofstrasse, am Rennweg oder am Neumarkt hatten es meinem Besuch angetan. Wir blieben jeweils stehen, reckten die Köpfe nach oben und blickten staunend umher. Es war ein Moment des Anhaltens und des Innehaltens. Mir fiel ein Satz aus der weihnachtlichen Tradition ein: «Erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.»
Wer Weihnachten feiert, feiert Zukunft. Man erhebt die Köpfe, blickt auf und blickt über die Zeit hinaus. Das Aufblicken zu den Lichterketten in den Altstadtgassen hat mich und meine Gäste für einen Moment von der dunklen Gegenwart befreit. Diese Bewegung auf Zukunft hin symbolisiert das Kind in der Krippe, das ganz im Mittelpunkt des Weihnachtsfestes steht. «Die Welt wird jedes Mal neu erschaffen, wenn ein Kind geboren wird», liest man beim norwegischen Schriftsteller Jostein Gaarder. Das neugeborene Kind in der Krippe ­symbolisiert so etwas wie Zukunftshoffnung. Neues wächst heran – das prägt die weihnachtliche Grundstimmung.
Die allgemeine Stimmung ist bei vielen Menschen von Sorge und Beklemmung geprägt. Angesichts zahlreicher Krisen und Konflikte in Europa und in der Welt möchte man am liebs­ten den Kopf in den Sand stecken. Wie soll man all die Herausforderungen bewältigen, von denen man täglich liest und hört: die Bedrohung durch den Klimawandel, die Unwägbarkeiten der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz, die weltweit wachsenden Migrationsströme, die vielerorts zunehmende Judenfeindlichkeit? Die grossen Länder wett­eifern um die wirtschaftliche, tech­nologische und militärische Vorherrschaft. Am Horizont scheint ein neu erwachender Ost-West-Konflikt zu stehen. Die Gegenwart und erst recht die Zukunft wirken auf viele Zeit­genossen besorgniserregend und bedrohlich.

Fülle des Lebens
Das Weihnachtsfest spricht eine andere Sprache: Die Zukunft ist nicht vorbei, sondern neu aufgebrochen. Wer ein neugeborenes Kind in den Armen hält, spürt, dass dieses kleine Wesen nicht vom Machen, sondern vom Empfangen lebt. Es ist auf Zuwendung und Fürsorge angewiesen. Das ist ein Fingerzeig dafür, dass unser aller Leben in seiner tiefsten Schicht nicht vom Machen, sondern vom Empfangen lebt. Es gibt eine Fülle des Lebens, die sich uns schenkt, längst bevor wir ­etwas bewerkstelligt oder geleistet haben. Wir haben viel mehr als uns selbst. – Diese Selbsterkenntnis schwingt mit, wenn man die Köpfe nach oben richtet und den Blick über sich hinaus wendet. Die Lichterketten in den weihnachtlichen Altstadtgassen laden dazu ein, die Häupter zu ­erheben. Und wer seine Zukunft nicht allein von sich und seinem Tun und Machen abhängig macht, bekommt ­einen weiten Blick. Jetzt steigt man über sich selbst hinaus und gewinnt einen neuen Blick auf das, was der Stadtgesellschaft dient, was dem Nachbarn hilft, was die eigene Seele neu ausrichtet. Jetzt gestaltet man die Gegenwart, weil man die Zukunft nicht von sich selbst abhängig macht.

Symbole und Rituale
Die Weihnachtszeit bietet viele Symbole und Rituale, die uns auf Zukunft ausrichten. Von den Lichterketten in den Altstadtgassen war bereits die Rede. Die Adventszweige und Weih­nachtsbäume machen uns darauf aufmerksam, dass selbst in dunkler Zeit ein Grünen und Wachsen anhebt. «Winter ist – aber die Knospen wissen es besser», besagt eine Volksweisheit. Das Licht der kleinsten Kerze erhellt die Dunkelheit. Wer ein Licht anzündet, nimmt der Finsternis die Macht. Das gemeinsame Essen an der weih­nachtlichen Tafel weist darauf hin, dass wir vom Teilen leben und darauf angewiesen sind, uns in dunkler Zeit gegenseitig zu stärken. Die Bescherung am Weihnachtsfest ist ein Ausdruck dafür, dass wir nicht aus uns selbst heraus leben, sondern von dem, was wir empfangen und erhalten. Dann leuchten die Augen, weil in einem weihnachtlichen Augenblick das Leben in seiner tiefsten Schicht erfahren wird. Wir leben letzten Endes wie ein neugeborenes Kind vom Empfangen. Darin steckt ein Glück, das das Leben mehr erfüllt als aller Besitz und alle Gewalt.
Der Spaziergang mit meinen Gästen durch die weihnachtlich geschmückten Altstadtgassen endete am Grossmünster. Vom Grossmünster blickten wir die Kirchgasse hinauf, an deren Fassaden eine lange Reihe erleuch­teter Weihnachtsbäume funkelte. Es war ein wunderbarer Blick. Und es war ein Blick hinauf nach oben. Es sah aus wie ein Weg, der sich voller Licht in die Zukunft bahnt. Am Ende unseres Spazierganges eröffnete sich ein schöner Weg und Ausblick. Es war ein weihnachtlicher Moment – mit Augen zu greifen. Wir blickten auf, setzten die ersten Schritte und begannen unseren Weg die Gasse hinauf. Wer Weihnachten feiert, feiert Zukunft.

Johannes Block