Für alle Menschen da sein

Anfangs Februar 2025 hat Christian Walti seine Stelle als Pfarrer am Grossmünster angetreten. Der Altstadt Kurier hat ihn zum Gespräch getroffen.

Anfangs Februar 2025 haben Sie Ihre Stelle angetreten, am 23. Februar konnten Sie im vollen Grossmünster den Begrüssungsgottesdienst feiern. Wie sind Sie in Zürich angekommen? 

Sehr gut, mir gefällt die Helferei, wo ich mein Büro habe, meine Arbeitsumgebung, und die Arbeit ist vielseitig. Das Grossmünster ist ein geheimnisvoller Ort, die Steine reden. Es ist ein schönes Gefühl, ich fühle mich begleitet, unterstützt. Ich bin dabei, in Zürich zu landen. Bin ja im Januar zurückgekehrt von einem viermonatigen Auslandaufenthalt. In Bern habe ich noch eine Konfklasse und schliesse ich ein Projekt ab.


Inwieweit haben Sie sich eingelebt?

Das Einleben geht übers Essen, fast täglich besuche ich ein anderes Res­taurant. Über Mittag in der Helferei, abends «Cucina», «Karli», «Bodega», «Santa Lucia»… Das gibt viele gute Möglichkeiten, die Leute, das Leben zu spüren.


Wie fühlt es sich an hier zu sein, was sind Ihre Eindrücke?

Ich bin in Zollikon aufgewachsen, kenne Zürich bereits, war dann fünfzehn Jahre weg. Das gibt einen neuen Blick auf die Stadt. Auffallend ist, dass es sehr naturverbunden ist ums Grossmünster herum. Das Wasser ist nah, die Limmat, der See. Das gibt mir das Gefühl vieler Verbindungen. Es hat Vögel, Mauersegler, Tauben… Der Ort ist wie durchlässig. Dann der Stein, der hier verbaut wurde, ein schöner Sandstein, das gefällt mir, es ist eine geerdete Stadt. Verglichen mit den USA, wo ich war, oder mit Deutschland gibt es hier einen stärkeren Bezug zur Natur, zu Himmel und Erde, um in den Elementen zu leben. Es ist mega schön, hier arbeiten zu können. Ich habe viele spannende Leute kennengelernt, die auf mich zukommen.


Sie lebten mit Ihrer Familie in Bern, waren Pfarrer an der dortigen Friedenskirche. Wie kommt es, dass Sie sich für das Grossmünster interessierten?

Es ist die Verbindung von Tradition und Ort, von Zwingli und Reformation, von Reformation und Innovation. Ich möchte eine Kirche machen, die sich immer wieder verändert. Überlegen, was es jetzt gerade braucht, was sinnvoll ist. Verbunden mit der Reformation: Zwingli hat sich überlegt: Was ist jetzt noch sinnvoll? Der Ort ist ein Symbol dafür.

Zweitens habe ich auch in Bern öffentlich gearbeitet, auch mit Nicht-Kirchgängern. Ich habe das Grossmünster wahrgenommen als Ort, wo das möglich ist. Mein Vorgänger, Christoph Sigrist, hat das stark geprägt, auch schon andere vor ihm.


Die vier Altstadtkirchen pflegen je ein eigenes Profil. Wie sehen Sie das Profil des Grossmünsters und wie wollen Sie damit umgehen?

Stichworte zum Motto des Grossmünsters: Der Rand gehört in die Mitte, die Mitte hat zwei Türme. Es gibt hier eine Tradition der Diakonie: Die Leute auf der Gasse, Benachteiligte, sitzen im Grossmünster in der ersten Reihe, das ist seit Zwingli so.

Die zwei Türme bedeuten auch: Es gibt keinen Chef, es sind immer mindestens zwei, die entscheiden. Das Grossmünster gehört dem Kanton, eigentlich allen Menschen. Die Zwillingstürme sind wunderschön.

Im Pfarramt gibt es zwei Pfarrer. Mein Kollege hat Fähigkeiten, die ich nicht habe, wir ergänzen uns gegenseitig sehr gut.


Wie teilen Sie sich die Aufgaben mit Ihrem Pfarrkollegen Martin Rüsch?

Wir sind gemeinsam verantwortlich und sprechen mindestens zweimal pro Woche miteinander. Er hat die Schwerpunkte Organisation des Standorts, die Nutzung des Grossmünsters und die Kunst. Ich habe die Schwerpunkte Jugendarbeit, Konfirmandenunterricht, Touristisches, also Führungen und Besichtigungen. Ansonsten teilen wir uns die Aufgaben wie Gottesdienste, Beerdigungen, Hochzeiten, Seelsorge, Besuche. Wir teilen uns auf.


Am Begrüssungsgottesdienst haben Sie explizit die Gläubigen, Halbgläubigen und Nichtgläubigen begrüsst. Was steht dahinter?

Es ist wichtig, dass man als Pfarrer nicht nur für die Gläubigen zuständig ist, sondern für alle, die sich mit spirituellen Fragen auseinandersetzen wollen. Unabhängig von der Religions- oder Kirchenzugehörigkeit. Ich mache «Service public» für alle.


Wir leben in einer unsicheren Zeit. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

Ich habe mehr mit Menschen zu tun, die depressiv sind, seit etwa drei Jahren. Habe mehr mit dem Thema Hoffnungslosigkeit zu tun. Ich selber habe solche Momente, allerdings nicht mehr als früher. Ich denke, es gibt kein einfaches Mittel und dann ist es weg, wieder gut. Doch es tut gut zu wissen, man ist nicht allein damit, es gibt jemanden, der das akzeptiert. Das Gefühl zu haben: «Ich bin einer von vielen, gehöre dazu.» Das Dazugehören ist etwas ganz Wichtiges.


Wo liegen Ihre Schwerpunkte, was ist Ihnen wichtig?

Zunächst junge Menschen, Kinder und Jugendliche, sind mir wichtig. Sie sollen sich einbringen können, mitmachen. Ich mache gern Konfirmandenunterricht, Jugendarbeit.

Zweitens finde ich Leute auf der Gasse interessant. Menschen am Rand der Gesellschaft, die aber eigentlich mittendrin sind, die sind ja häufig in der Innenstadt. Sie wissen, wie zu überleben. Ich treffe sie unter anderem in der Herberge zur Heimat, die ich regelmässig besuche.

Drittens die Gastronomie. Restaurants und Kirche erfüllen fast den gleichen Auftrag. Sie bringen Leute an den Tisch, sind gastfreundlich, ermöglichen Begegnungen. Gastronomen und ihr Personal leisten viel für die Allgemeinheit, die Gesellschaft. In Bern habe ich ein soziales Restaurant, das «Dock8», mit aufgebaut und geleitet.

Viertens die Interreligiosität. Ich glaube, wir können nicht mehr nur unter Christen religiös sein. Es wäre eine vergebene Chance, mehr über das Eigene zu lernen in der Begegnung mit anderen.

Fünftens der Umgang mit Geflüchteten, die Migration. Es gibt ein Netzwerk von Pfarrpersonen, die sich für deren Rechte einsetzen, aus religiösen Gründen. Ich möchte, dass man darüber redet.


Die Kirche verliert Mitglieder. Wie können Sie die Menschen für die Kirche gewinnen? 

Durch Kooperationen, Sachen machen mit Leuten ausserhalb der Kirche, die gemeinsame Anliegen haben. Zum Beispiel gibt es Freiwilligengruppen, die zu Randständigen schauen. Man muss dazu nicht gläubig sein. – Ich weiss, dass man so die Kirchensteuer nicht rettet. Die braucht es. Aber unabhängig davon: Das Engagement ist das Wichtige.


Wie gewinnen Sie junge Menschen?

Mit Gemeinschaft, Beziehung, Interesse für sie. Sie sollen wissen, dass sie nicht allein sind. Ich möchte auf junge Menschen zugehen. Dann sind sie bereit, mitzumachen. Über die Gemeinschaft, das Erlebnis.


Gleichzeitig weist gerade das Grossmünster stark gestiegene Besucherzahlen auf. Wie geht das zusammen mit dem Mitgliederschwund?

Über die Kirchenaustritte kann man eine Liste führen. In der Realität ist die Beteiligung nicht schlechter geworden. So haben die Räume, speziell das Grossmünster, eine Anziehungskraft. Man sucht hier den Anschluss an frühere Generationen.


Wie sieht Ihr Alltag gegenwärtig aus?

Jeder Tag ist anders. Ich habe viele Erstbegegnungen, das mache ich am liebsten. Dann gibt es Teamsitzungen in verschiedenen Projekten. So bereiten wir ein Festival vor zum Thema Tod. Oder das Thema Tischgemeinschaft, anlässlich 500 Jahre Abendmahl: in der Altstadt möchten wir auf öffentlichen Plätzen «Teilete» machen, zusammen essen, eine Feier im Grossmünster gehört dazu. 

Weiter bin ich dabei, Gottesdienste, Trauerfeiern und anderes mehr vorzubereiten. 

Gespräche führen. Aufmerksame Gespräche führen, das mache ich wahnsinnig gern! Alles ist wichtig!


Interview: Elmar Melliger




Zur Person

Christian Walti, geb. 1982, ist in Zollikon aufgewachsen, hat in Zürich, Heidelberg und Kopen­hagen Theologie studiert und an der Uni Bern promoviert. Von 2014 bis jetzt war er Pfarrer an der Friedenskirche in Bern. Er hat dort das soziale Restaurant «Dock8» mit aufgebaut und geleitet und sich im «Haus der Religionen» engagiert. Er ist verheiratet mit der Theologin Esther Schläpfer; sie haben zwei Kinder. – Er arbeitet wie sein ­Kollege Martin Rüsch mit einem Pensum von 75 Prozent.


EM