Eine Ahnentafel des Detailhandels

Die Lädeli sind beinahe ausgestorben, die noch da sind, sind munter. Auf einem unvollständigen Rundgang klopfte der Altstadt Kurier an die Scheiben, um nachzufragen, wer vor kurzem hier noch war.

Frage: Wo befand sich das Eisenwarengeschäft Byland? Eben. Der Erinnerung etwas auf die Beine helfen will diese Ahnentafel des Detailhandels.

Eigentlich besteht ein ungeschriebener Vertrag zwischen dem Publikum und den Geschäften. Allerdings nur einseitig. Die Leute gehen davon aus, ein stadtbekannter Laden sei eine Art Erbpacht und daher zum Überdauern verpflichtet. Verschwinden gilt nicht. Die Geschäftsinhaber und ihre Familien allerdings sehen das meist anders. Für sie ist der Laden nicht Schicksal, sondern Lebensmittel, die können ausgehen, vertrocknen, verstauben, ungeniessbar werden. Anders herum: es gibt durchaus Gründe, aufzuhören.
Da sind auch noch die Hauseigentümer, Erbengemeinschaften zum Beispiel oder andere geldbedürftige Personen. Die können zwar zusammenzählen, aber nicht rechnen. Ihr Blick geht nicht über den Tellerrand, genauer, über die eigene Kasse hinaus. Für die Nachbarschaft, das Quartier und die Stadt sind sie blind. Hier gilt die einfache Regel: Sage mir, wem du vermietest und ich sage dir, wer du bist. Die Hauseigentümer sind für die Mischung und das Quartierleben mitverantwortlich.
Als Fussnote sei hier angemerkt, dass die BinnentouristInnen, die verzückt vor einem «wahnsinnig schönen Laden» stehen, dem Hutladen zum Beispiel oder dem Atelier der Buchbinderin, sich kaum je bewusst sind, dass sie sich in diesem Fall meistens vor einer städtischen Liegenschaft ergötzen. Kaufen tun sie trotzdem nichts. So kommt es, dass da und dort ein altbekannter Laden verschwindet, von empörter Trauer begleitet und mit Resignation zu Grabe getragen. Der Altstadt Kurier hat sich mal umgesehen.

Die Kristallgläser sind verklungen
Es war einmal das Haushaltsgeschäft Ditting am Rennweg. Dort gab es eine Riesenauswahl zur Ausstattung einer echt bürgerlichen Wohnung, nur gibt es diese Edelbürger nicht mehr, darum auch kein Haushaltsgeschäft. Wer beharrlich verkauft, was das Publikum nicht will, will nicht, dass er bleibt. Die Liegenschaft gehört der Familie und hat einen neuen Namen: «Haus der Ideen», worin Gartenmöbel verkauft werden und Kleider unter der Bezeichnung «Max Ditting + Tucano». Daneben gibt es einen mit «Post Finance» angekündigten Informationsladen, wo man ein Postkonto beantragen kann, etwas über Aktien erfährt und über Hypotheken, aber keine Briefe aufgeben kann. Ziemlich überflüssig.
Séquin-Dormann an der Bahnhofstrasse war auch edel, Kristallgläser und handgeschliffene Messerbänkli, die Wunschliste für Brautpaare inklusive, aber auch ein hundsgewöhnliches Salatsieb; kurz, ein anderes Haushaltsgeschäft der Goldküstenklasse ist verschwunden. Der Laden rentierte, aber nicht genug. Die deutschen Eigentümer zählten zusammen: der Mietzins war ihnen zu hoch, Zürich interessierte sie nicht mehr. Jetzt kauft die modebewusste Jugend dort ihre Kleider bei der Modekette Esprit.

Der Kaufrausch bleibt gedämpft
Über den Untergang der (Boulevard-) Cafés des Hotels St. Gotthard an der Bahnhofstrasse haben alle schon gemurrt. Selbstverständlich ist von den Beauftragten der Familie Manz, der das Haus gehört, vorgebracht worden, die Auflagen der Gewerbepolizei machten das Beizern so teuer, dass es nicht mehr rentiere. Gewiss, aber nur verglichen mit der Vermietung an Goldhaus, Swisscom, H&M (ab Oktober) und Six, wo Modeschmuck zu haben ist. Das Restaurant wurde auf dem Altar der Rendite geschlachtet.
Ebenfalls an der Bahnhofstrasse gab es die Parfümerie Weber-Strickler, eine Institution. Der unterdessen pensionierte Patron fand keinen Nachfolger. So werden nun statt Düfte Luxus-Ledersachen angeboten, Longchamp mit Namen.
Kein Nachfolger auch bei Chäs-Hebeisen am Rennweg (remember?), wo der Sohn Opernsänger ist und die Tochter nicht im Land. Das Haus gehört der Familie, der Laden wird vermietet. Er ist so teuer, dass kein Geschäft es lange durchhält. Verschiedene Ketten (Keramik, Schmuck, heute Umstandsmode) versuchten ihren Ausflug nach Zürich und stellen fest, dass hier der Konsument ein ebenso widerborstiges Tier ist wie anderswo: er gibt das Geld nicht her. Die Kaufkraft in Zürich wird von aussen oft überschätzt, hier bleibt der Kaufrausch zwinglianisch gedämpft.

Ein Haus in Zürich
Die Drogerie Wernle an der Augustinergasse ging zu, der Zins ist zu hoch. Wernle aber bleibt, allerdings nur noch am Stadelhofen und am Schaffhauserplatz. Konzentration heisst das Stichwort. Expansion ist die Antwort: noch ein Kleidergeschäft mehr.
Auch die Lindenhof-Apotheke am Rennweg hört auf. Es werden künftig einmal mehr Kleider einziehen. Erben ist ein schwieriges Geschäft, vor allem, wenn der Erblasser noch lebt. Der Vater, dem das Haus gehört, hat genug und braucht keine Apotheke mehr. Der Sohn, der nicht Apotheker ist und von Gesetzes wegen einen diplomierten Apotheker anstellen muss, hat darum zu wenig. Resultat: der Pillenknick. Jetzt wird der Laden samt drei Stockwerken vermietet. Das Gerücht weiss von 320 000 Franken im Jahr.
Wen Gott liebt, dem gibt er ein Haus in Zürich, aber kein eigenes Geschäft. Mit dem verdient er durch Arbeit weniger als mit Vermieten.
Kempf an der Strehlgasse, wo es Stiche und Rahmen zu kaufen gab, geht nach Herrliberg, sozusagen nach Hause. Wer ein Spezialgeschäft dieser Art hat und sich in Jahrzehnten eine Kundschaft aufbaute, der kann auch von seinem Wohnort aus seinen Laden betreiben. An der Strehlgasse wird derzeit umgebaut, noch ist der Redaktion des Weltblatts unbekannt für wen.

Rechts der Limmat
Auf der andern Limmatseite ist die Geschichte um den Comestibles Bianchi kompliziert und fast so übel riechend wie früher der Fisch im Hinterhof. Ein Bianchi-Laden hätte der Marktgasse wohl angestanden, aber das Beliefern der Lokale ist ergiebiger als das Führen eines Lokals. Anders herum: der Lieferdienst rentabler als das Detailgeschäft. Also kauft auch der Urbanit den Fisch heute in der Migros. Die Turnschuhe hingegen neu bei Adidas, unter dem alten Schriftzug, mit «Bianchi» angeschrieben.
Die Bäckerei Bertschi ist zu und baut um, denn der Bertschi Brotkorb AG gehört das Haus. Ob wieder eine Bäckerei entsteht, ist noch offen, sicher aber wird es keine Backstube mehr geben. Nie mehr wird der mächtige Mehlwagen die Gasse blockieren. Müdespacher, der Käseladen, ist weg, das Haus gehört der Familie, die sich vom Käse ab- und dem schönen Leben zugewandt hat.
Das Haus Münsterton ist auch Vergangenheit. Irgendeinmal war die aggressive Konkurrenz der Fachmärkte stärker. Aus. Warum die Zunft zur Schmiden aber keinen quartierverträglicheren Mieter fand, als nochmals ein Modegeschäft, kann fast nur an der Gier liegen, die die verehrliche Vorsteherschaft blendete. Quartiervertäglich heisst nicht ruhiger Geschäftsgang, sondern einen Beitrag zur Durchmischung leisten. Das hat die Zunft verpasst und auch für sie gilt: Sage mir, wem du vermietest und ich sage dir, wer du bist.
Dass es einmal eine Papeterie Racher gab, ist bereits ein Gerücht. Irgendeinmal werden sich die letzten Überlebenden erzählen: mit diesem kundenplagenden Kassensystem musste der Laden ja eingehen. Orell Füssli betreibt heute dort eine Buchhandlung, genauer: eine Bücherboutique. Sie ist nicht für Leser, sondern für «Schnäugger», wovon es eben mehr hat. Oben redet OF Französisch mit Payot-Akzent, unten «designisch». Wann wird wieder eine Buchhandlung aufmachen, die Krauthammer-Qualitäten hat?

Benedikt Loderer, Stadtwanderer