Hundert Jahre jung geblieben

Die Kita Neustadtgasse feiert ihr hundertjähriges Bestehen. Wer das Haus besucht, erhält den Eindruck einer sehr lebendigen Kindertagesstätte. Und der feierliche Akt des Trägervereins war von jugendlicher Frische.

Eine Führung durch das Haus begann im Eckzimmer des an der Ecke Kirchgasse / Neustadtgasse gelegenen Gebäudes. Heute dient der Raum als Büro der Leiterin. Vor fünfhundert Jahren war dies die Amtsstube von Huldrych Zwingli. Das Haus «Zur Sul ob dem Besen» stammt etwa aus dem Jahr 1400, und auch die heutige Nutzung reicht ein Jahrhundert zurück. Mit dem langen Atem der Geschichte, der hier spürbar ist, kontrastiert das quirlige Innenleben: Dreissig kleine und kleinste Kinder hauchen dem alten Gemäuer täglich Leben ein. Die Kinderschar ist verteilt auf drei Stockwerke und gegliedert in drei vom Alter her gemischte Gruppen. Die Kinder werden aufgenommen ab drei Monaten bis zum Eintritt in den Kindergarten, also bis sie vier, fünf Jahre alt sind. Ab sieben Uhr morgens bis um halb sieben wohnen, spielen, essen und trinken sie hier, gehen mit auf Spaziergänge und Ausflüge, liebevoll umsorgt von ihren Betreuerinnen. Im Erdgeschoss residieren die Smarties. Im zweiten Stock ist das Reich der Papageien. Hier zeigt schon der Blick auf ein Wandbrett voller Schnuller, diese unglaublich wichtigen Nuggis, dass wir es mit Kleinkindern zu tun haben, wenn auch nicht mehr alle die zuvor unerlässlichen Wegwerfwindeln benötigen. Die lange Reihe von Zahnbürstchen hat etwas Rührendes. Auf jeder Etage gibt es Ruhe- und Aufenthaltsräume, hier wird auch das Mittagessen eingenommen, das vom Kita-Koch frisch zubereitet wird. Valérie Vuillemin leitet die Kita, die früher Kinderkrippe genannte Kindertagesstätte. Sie zeigt noch das obere Geschoss, die Domäne der Regenbogen. Sie hat vor sechs Jahren Priska Schwager als Leiterin abgelöst, die zwanzig Jahre hier wirkte. Die 1998 erfolgte Renovation des Hauses nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten lässt die Geschichte noch erahnen. Der Modernisierung waren damit gewisse Grenzen gesetzt, am Einbauschrank lassen Holzwurmlöcher die Geschichte ablesen, doch blieb so der Charme und Charakter der historischen Liegenschaft erhalten. Auf dem Hof tummeln sich die heutigen kleinen Teilzeitbewohnerinnen und -bewohner.

Schwester Valérie
Die Jubiläumsveranstaltung im Vortragssaal des Kunsthauses richtete sich nicht an die sonst im Zentrum stehenden Kinder, sondern an die Erwachsenen. Exponentinnen des 1885 gegründeten Gemeinnützigen Frauenvereins Zürich (GFZ), der seit 1895 solche Kindertagesstätten führt, eröffneten den Anlass.
Zur Illustration des Wandels der Zeit konnte die GFZ eine Vorvorvorgängerin der heutigen Kita-Leiterin dazu gewinnen, etwas von früher zu erzählen. Schwester Valérie (alias Valérie Vuillemin) berichtete ihrer Interviewerin von den damaligen Verhältnissen, als die Schwester mit einer Handvoll Tanten fünfzig bis siebzig Kinder zu hüten hatte. Die mitgebrachten Fotos zeigten Reihen von Laufgittern und von Bänken, auf denen mehrere Knirpse nebeneinander auf dem Töpfchen sitzen konnten. Damals war die Krippe an sechs Wochentagen geöffnet, und die Angestellten wohnten im Dachgeschoss. Die Mütter der Kinder mussten in die Fabrik zur Arbeit (und das Pflegegeld von Fr. 1.80.– jeden Abend bei der Übernahme des Kindes entrichten). Gründungszweck der ersten Kinderkrippe war denn auch, «rechtschaffene, verarmte und verwitwete Mütter zu entlasten», wie die GFZ-Präsidentin Cilgia Forrer-Bezzola aus einem hundertjährigen Protokoll zitierte. Heute bieten die GFZ-Kitas fast vierhundert Plätze an, und es werden knapp achthundert Kinder betreut, die meisten jeweils zwei bis drei Tage pro Woche.

Familiengerechte Altstadt
Anschliessend an diesen amüsanten Rückblick spannte ein Podiumsgespräch den Bogen zum heutigen Umfeld der Kita. Unter der Leitung von Charles Clerc diskutierten Brigit Wehrli-Schindler von der Zürcher Stadtentwicklung, die Schulpräsidentin Hanna Lienhard sowie zwei Väter und eine Mutter von die Kita besuchenden Kindern, Andrew Katumba, Claude Lambert und Regina Kuratle. Sie gingen der Frage nach, inwiefern sich die Altstadt als Lebensraum für Kinder eigne. Als Fazit könnte man sagen, dass die Altstadt ebenso wie andere Quartiere für Kinder geeignet ist. Dass es jedoch wichtig ist, die entsprechende Infrastruktur zu erhalten oder auszubauen. Erwähnt wurde der letzte in der Altstadt noch betriebene Kindergarten ebenso wie knapp vorhandene Spielplätze, die den Kindern den nötigen Auslauf ermöglichen, auch wenn sie gerade nicht einen Ausflug in den Wald machen können. Geeigneter Wohnraum für Familien gehört ebenso wie gute Schulen zu den Voraussetzungen dafür, dass es auch in Zukunft Familien hier geben wird, die den Fortbestand einer lebendigen Altstadt sichern helfen.
Das anschliessende Spontantheater rundete den denkwürdigen Anlass ab, bevor der Apéro aufgetragen wurde. Ein Anlass, der die Kita Neustadtgasse und deren Trägerverein, den GFZ, als moderne Organisationen präsentierte, die den Herausforderungen der Zeit mit Elan und Kreativität begegnen. Chapeau und alles Gute für die kommenden hundert Jahre!

Von Elmar Melliger