Wohnen für alle?

Über 20 Prozent der Wohnungen im Kreis 1 gehören der Stadt Zürich. Nun erwirkt der Kanton im Rahmen seiner Rechnungslegungsvorschriften indirekt happige Mietzinserhöhungen. Der Altstadt Kurier sprach mit Stadtrat Martin Vollenwyder über die Sorgen des Quartiers.

Es hört sich auf den ersten Blick harmlos, finanztechnisch und damit langweilig an. Aber der Sachverhalt ist für das Quartier brisant und von höchstem Interesse. Die Rede ist von den Rechnungslegungsvorschriften für die Bewertung des Liegenschaftenbesitzes, welche der Kanton in der Stadt Zürich resolut durchzusetzen gewillt war – und dabei in Finanzvorstand Martin Vollenwyder einen harten Verhandlungspartner fand. Dazu Vollenwyder gleich zu Beginn unseres Gesprächs: «Es stimmt, dass der Kanton durch seine Rechnungslegungsvorschriften indirekt dafür sorgt, dass die städtischen Mietzinse bei Neuvermietungen von Wohnungen in Fiskalliegenschaften – und nur dort – ansteigen. Wir haben in den Verhandlungen aber viel erreicht und konnten zahlreiche kostendämpfende Faktoren einbauen.»

Ein Blick zurück
Doch um was geht es genau? Wir beginnen mit einem Rückblick ins letzte Jahrhundert. Und fragen: Wie kam die Stadt Zürich eigentlich zu ihrem Liegenschaftenbesitz? Um günstigen Wohnraum für die Stadtbevölkerung zu schaffen, ist die Stadt seit eh und je als Bauherrin aktiv. In 53 Wohnsiedlungen besitzt sie gut 6400 Wohnungen, die nicht dem Finanzvermögen zugewiesen sind. Rund 2700 weitere Wohnungen der Stadt befinden sich in sogenannten Fiskalliegenschaften. Etwa 800 davon befinden sich in der Altstadt. Ihr Erwerb erfolgte nicht aus sozialpolitischen, sondern aus strategischen Gründen. Es ging dabei um die Realisierung neuer Verkehrsachsen, das Auslichten der engen und lichtarmen Bausubstanz und die Errichtung von zum Glück nie realisierten Verwaltungsbauten, wie sie noch in den Sechzigerjahren entlang der linken Limmatseite im grossen Stil geplant waren. Doch die Zeiten änderten sich: Ab den Siebzigerjahren erkannte man den städtebaulichen Wert der Zürcher Altstadt. Und ab den Neunzigerjahren begann die Stadt im Kreis 1 mit der systematischen Sanierung ihres Liegenschaftenbesitzes.

Kostenmiete
In den Wohnungen der Altstadt, die oft in einem schlechten baulichen Zustand waren und die mit ihren Holzöfen und verwinkelten Zimmerchen zwar viel Charme, aber einen tiefen Komfort aufwiesen, war das Wohnen oft sehr günstig (und ist es teilweise bis heute geblieben). Tatsächlich lag das Mietzinsniveau in den städtischen Liegenschaften in der Vergangenheit ausgesprochen tief, was für die typische Bevölkerungsstruktur in der Altstadt sorgte: Einerseits zog der Reiz der Zentrumslage viele sozial Starke in die Altstadt. Private Wohnungen wiesen schon früh überdurchschnittliche Mietzinsen auf. Andererseits wohnten in vielen städtischen Wohnungen Künstler, Studenten, aber auch sozial Randständige, die im Quartierleben bestens aufgehoben waren. Die tiefen Zinse lagen oft deutlich unter den realen Kosten, der Liegenschaftenverwaltung fehlte damit das Geld, die Gebäude in einem baulich anständigen Zustand zu halten. Dies führte 1991 zum Modell der Kostenmiete. Die Mietzinse sollten gemäss einem transparenten Modell die vollen Kosten decken (darin inbegriffen alle Kosten für werterhaltende bauliche Massnahmen). Anders als im privaten Bereich darf die Kostenmiete aber keine Rendite abwerfen. Die Formel dazu ist recht einfach: Man multipliziert den Buchwert der Liegenschaft (das heisst den Kaufpreis addiert mit allen wertvermehrenden Investitionen) mit dem aktuell gültigen Hypothekarzinssatz der Zürcher Kantonalbank und addiert dazu im Sinne einer Bewirtschaftungsquote 3,25 Prozent des Gebäudeversicherungswerts. Das ergibt den jährlich zu erzielenden Mietzinsertrag, der auf die einzelnen Wohnungen und Geschäfte der Liegenschaft zu verteilen ist. Die Einführung dieser Kostenmiete bewirkte damals einen Mietzinsanstieg von durchschnittlich 30 Prozent. Auch danach lagen die Mietzinse deutlich unter jenen des privaten Markts. Vergleicht man die soeben von Statistik Zürich veröffentlichte Erhebung zu den Mietzinsen im Stichjahr 2006, sehen wir, dass im Kreis 1 die Wohnungen mit Kostenmiete je nach Wohnungstyp 30 bis 40 Prozent unter dem Mietzinsniveau privater Liegenschaften liegen. Einzig bei grossen Wohnungen ab 5 Zimmern liegt die Differenz unter 10 Prozent.

Der Kanton schreitet ein
Um die Vergleichbarkeit der Finanzdaten zu gewährleisten, erlässt der Kanton für alle Gemeinden sogenannte Rechnungslegungsvorschriften. Darin enthalten sind Anweisungen, wie der Buchwert von Liegenschaften einheitlich zu erheben ist. Die entsprechende Formel ist komplex und kann hier nicht im Detail erörtert werden. Wesentlich aber ist, dass in diese Formel auch der aktuelle oder der potenziell erzielbare Ertragswert einer Liegenschaft mit einfliesst. Das ist brisant, denn damit hält erstmals auch ein marktwirtschaftliches Element in die Kostenmiete Einzug, und zwar allein aus finanztechnischen Gründen und ohne, dass dies politisch diskutiert worden wäre. Kommt dazu, dass diese Einschätzung automatisch mindestens alle 10 Jahre zu erfolgen hat. Da die Marktkräfte in der Innenstadt besonders stark wirksam werden, sind hier die Konsequenzen vorgezeichnet. Ob dies noch im Sinne der Kostenmiete ist, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert.

Entwarnung?
Stadtrat Vollenwyder fordert zu einer nüchternen Betrachtung auf: «Die Mieten der städtischen Liegenschaften sind und bleiben günstig. Das Problem ist weniger die Anpassung der Mieten an sich (eine moderate Erhöhung des Buchwerts im Sinne einer Anpassung an die Teuerung scheint mir durchaus vertretbar), sondern die Anpassung im Zehnjahresrhythmus, was jeweils zu markanteren Sprüngen führt. Wir haben die Konsequenzen der neuen Buchwerte errechnet. Im Schnitt beträgt die Mietzinserhöhung in den städtischen Liegenschaften rechts der Limmat 10 Prozent. Auch danach liegen wir deutlich unter den Marktzinsen. Nehmen wir ein Beispiel: 32 Prozent unserer 1- bis 11/2-Zimmerwohnungen in der Altstadt rechts der Limmat kosten heute unter 550 Franken. 23 Prozent liegen zwischen 550 und 700 Franken. Nur 20 Prozent belaufen sich auf über 850 Franken. Bei unseren grossen Wohnungen (4 Zimmer und mehr) liegen 22 Prozent unter 1100 Franken und insgesamt 58 Prozent unter 1900 Franken. Auch nach der durch den Kanton verursachten Mietzinserhöhung werden wir bemerkenswert günstige Zinsen haben. Die Erhöhung wird übrigens ausschliesslich bei Neuvermietungen fällig. Wer bereits bei der Stadt wohnt, macht bei der Miete nur jenes Auf und Ab mit, das durch Veränderungen des Hypozinses und des Gebäudeversicherungswertes beeinflusst wird.»

Schleichende Veränderung
Im Quartier macht sich dennoch berechtigte Sorge breit. Die gute soziale Durchmischung der Altstadt hat Tradition. Noch ist diese als lebendige Solidargemeinschaft erlebbar. Sozial Starke und sozial Schwache grenzen sich in der Zürcher Altstadt auffällig wenig voneinander ab und leben gewissermassen Wohnung an Wohnung. Ist diese Tradition nun in Gefahr? Quartiervereinspräsident Martin Brogli bringt den Aspekt im Gespräch auf den Punkt: «Wir wollen die Zürcher Altstadt als sozial gut durchmischtes und starkes Wohnquartier erhalten. Ein Quartier, in dem auch Familien mit Kindern wohnen können, in dem Geschäfte, die der Quartierversorgung dienen, günstige Bedingungen finden. Dafür trägt die Stadt als wichtigster Liegenschaftenbesitzer hinsichtlich Mietzins- und Vermietungspolitik eine grosse Verantwortung.» Dazu Vollenwyder: «Ich stelle eine weitgehende Übereinstimmung der Zielsetzungen fest. Ich kann diese Punkte alle mit unterzeichnen.»
Diese Stellungnahme ist erfreulich. Dass die Mietzinse steigen, weil gegenwärtig alle drei Faktoren der Kostenmiete zulegen (der Buchwert durch die kantonalen Rechnungslegungsvorschriften, der Versicherungswert aufgrund der Bauteuerung und der Hypothekarzins aufgrund aktueller Markttendenzen), ist dennoch eine Tatsache.

Initiative lanciert
Kurz nach dem Gesprächstermin mit Martin Vollenwyder lancierte ein breit abgestütztes Initiativkomitee die Stadtzürcher Volksinitiative «Für bezahlbare Wohnungen und Gewerberäume in der Stadt Zürich». Die Initianten wollen die vom Kanton erwirkte Aufwertung der städtischen Liegenschaften damit rückgängig machen. Der Altstadt Kurier unterstützt das Begehren. Es wäre nämlich verheerend, wenn die Altstadt zum Reservat von gut situierten Bürgerinnen und Bürgern mit gehobenen Ansprüchen würde und Menschen mit tieferer Kaufkraft aus dem Quartier verdrängt würden. Und es käme die Stadt unter dem Strich wohl auch teuer zu stehen.

Michael Schädelin