Der Kleiderbügel
Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster, hat für den Altstadt Kurier den folgenden Beitrag, eine Weihnachtsgeschichte, verfasst.
Die Advents- und Weihnachtszeit ist voll von Erinnerungen an die eigene Kindheit. Ich kann es nicht verhindern, dass auch bei mir solche Geschichten meine Zeit in unserem festlich geschmückten Quartier prägen. Dabei ist mir eine besonders lieb.
Mein Vater war Diakon in der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Zürich Enge, und er betreute eine grössere Zahl von Obdachlosen. Als Kind wuchs ich mit diesen auf, in Erinnerung geblieben ist mir vor allem Köbi, so nenne ich ihn. Er schlurfte jeweils ins Büro an der Grütlistrasse, zwei Plastiksäcke an je einer Hand, ein dicker Pulli bedeckte halbwegs seinen grossen Bauch. Er schlief bisweilen hinter unserem Haus im Garten auf der Bank. Das Plätschern nachts um zwei höre ich jetzt noch, wenn er sich kurz vor seinem Nachtlager erleichterte.
Gutschein eingetauscht
Nun, ich spielte im Park des Kirchgemeindehauses Fussball. Es war November, da kam er wieder. Ich weiss nicht, was mich trieb. Jedenfalls schlich ich zur Bürotür. «So, Geld wollen Sie?» hörte ich meinen Vater. «Das gibt es nicht, Sie kriegen einen Migros-Gutschein. Und eine Schoggi.» «Diese habe ich nicht gern. Könnte es nicht noch eine mit Nüssen sein?» «So jetzt, fertig. Sie können gehen, raus!», antwortete mein Vater. Wutentbrannt riss Köbi die Tür auf, wankte an mir vorbei, fluchend, und warf die Schoggi an die Tür.
Mit rotem Kopf tauchte nun mein Vater auf. «Komm», sagte er zu mir, «jetzt möchte ich dir etwas zeigen.» Wie Detektive schlichen wir der Grütlistrasse entlang bis zum Bahnhof Enge. Dort sahen wir, wie Köbi beim Buffet mit jemanden redete. Plötzlich glitzerte etwas in der Hand. Und alsbald stand ein Bier vor ihm auf dem Tisch. Mein Vater hinkte, weil ein Bein verkürzt war. So schnell habe ich ihn nie mehr gesehen. Er stand vor Köbi. Dieser stand auf. Er war ein Kopf grösser. Er zog meinen Vater zu sich und warf ihn zu Boden. Köbi verzog sich mit der Stange Bier. Ich rannte sofort zum Vater. Er blutete aus der Nase. Doch grössere Verletzungen hatte er nicht. Noch lange diskutierten wir über seine Arbeit mit Obdachlosen.
Später Besuch
Es kam der Heiligabend. Und wie viele Kinder, so mussten auch wir am Nachmittag auf den Uetliberg, sodass meine Mutter den Christbaum schmücken konnte. Um 18 Uhr gab es immer belegte Brötchen. Dann läutete das Glöcklein in der Stube. Und wir durften in den geschmückten Raum. Natürlich wollten wir sofort den Berg von Geschenken stürmen, doch das Ritual sah anderes vor. Zuerst musste mein Bruder mit der Trompete ein Weihnachtslied versuchen. Dann waren meine Schwester und ich mit dem Geigenspiel dran. Doch ich hatte nicht geübt und fiel immer beim gleichen Takt aus der Melodie. Meine Schwester wurde so wütend, dass sie mir den Geigenbogen über meinen Kopf schlug. Fröhliche Weihnachten.
Dann nahm mein Vater die Bibel hervor. Und er las, wie zur Zeit, als Quirinius Statthalter war, Joseph mit Maria aufbrach, um sich zählen zu lassen. In dem Moment läutete es unten an der Tür.
Wir alle erschraken. Wer konnte das sein? Mein Vater ging ins Esszimmer, öffnete das Fenster. Unten stand frierend Köbi. «N’Abend, darf ich Ihre Frau sprechen?» Verwirrt kam er ins Zimmer. «Du, er möchte dich kurz sprechen.»
Meine Mutter stieg die Treppe hinunter ins Parterre. Mein Vater blieb oberhalb stehen. Und wir drei Kinder drückten unsere Nasen am Fenster platt und sahen hinunter. Wir erschraken: Köbi nahm aus seinem Plastiksack etwas Grösseres heraus. Es war ein Kleiderbügel. «Diesen habe ich für Sie gemacht und gemalt. Und Tschuldigung wegen Ihrem Mann.» So schnell wie er da war, so schnell verschwand er im Dunkel der Nacht.
Versöhnung
Seitdem begleitet mich der Kleiderbügel durch mein Leben. Er hängt an meiner Tischlampe im Studierzimmer, zuerst im Toggenburg, dann in St. Gallen und jetzt in Zürich. Für mich wurde er zum Symbol dafür, dass es Nächte gibt, in denen wir all unsere Kleider und Verkleidungen an den Bügel hängen können, um uns selber und anderen nichts mehr vormachen zu müssen. Und so, wie jedes Kind geboren wird, nackt und bloss, kann die Seele die Hand zur Versöhnung reichen. Der Kleiderbügel von Köbi, der an Heiligabend in mein Leben getragen wurde, wurde für mich zum Zeichen, dass es niemanden gibt, bei dem man nicht die Hand zur Entschuldigung reichen kann.
Und noch etwas: Schenken kann versöhnen. Was unter Menschen gilt, gilt doch umso mehr zwischen Gott und uns.
Übrigens: Später erfuhren wir, dass der Kleiderbügel in der EPA von Köbi gestohlen wurde, die Farben ebenso. Und dass Köbi den Kleiderbügel spät nachts hinter unserem Haus im Garten bemalt hat.
Christoph Sigrist