Klassentreffen der Niederdorfgoofen

Sie sind 1919 geboren und haben die Kindheit in der Altstadt verbracht. Alle gingen sie, kürzer oder länger, am Hirschengraben zur Schule. Am 22. April trafen sich elf ehemalige Schülerinnen und Schüler im Altersheim Pfrundhaus.

Die 91-jährige Edith Wolf ist glücklich, so zentral wohnen zu können. Seit elf Jahren lebt sie im Altersheim Pfrundhaus an der Leohnhardstrasse, nur einen Steinwurf entfernt vom Haus ihrer Kindheit. Ihre Sehkraft hat nachgelassen, sonst ist sie aber mobil und unternehmungslustig, gönnt sich hin und wieder ein Taxi zum Ausgehen, etwa wenn sie den Musiker Freddy Zimmermann besucht, der früher mit ihr am Hirschengraben zur Schule ging. Man spielt vierhändig Klavier, tauscht Erinnerungen aus.
So kamen die beiden auf die Idee, ihre ehemaligen Schulkollegen ins Pfrundhaus einzuladen, um gemeinsam zu singen. Zimmermann übernahm den musikalischen Teil und Edith Wolf den organisatorischen, mit Unterstützung von Berti Weber, die am längsten Verbindung zu einstigen Hirschengräblern gepflegt hat.

Beppi, Frosch und Bohne
Am 22. April, ein prächtiger Frühlingstag, stehen die beiden Initiantinnen ab halb zwei beim Eingang, um die Gäste zu empfangen. Edith Wolf hat eine zurückhaltende, humorvolle Art, Berti Weber im schicken Tailleur ist lebhaft und energisch.
Ursprünglich gab es ein Netz von rund 30 Personen, die im Schulhaus Hirschengraben dieselbe Klasse besuchten. Die einen waren vom Kindergarten bis zum Schulaustritt zusammen, andere gehörten nur zeitweise zum Klassenverband. Manche leben nicht mehr, einige wohnen zu weit weg oder sind nicht in der Verfassung, an die Leonhardstrasse zu kommen.
Edith Wolf und Berti Weber mitgezählt, sind es schliesslich elf Ehemalige, die heute feiern, acht Damen und drei Herren. Nach und nach treffen sie ein: Lisel Balsiger, Josy Dreher, Elsi Hofmann, Auguste Meier, Bethli Stauffer und Trudi Wörndle. Die Herren Ernst Bachmann, Kurt Wehrli und Freddy Zimmermann sind in der Minderzahl, dafür von auffallender Eleganz. Zwei Damen sitzen im Rollstuhl, ein Herr ist sehbehindert, aber alle wirken
sie erwartungsvoll und gut aufgelegt. Beim Wiedersehen gibt es Hallo und Gelächter, die alten Spitznamen sind parat: «Sali Bohne, hoi Beppi, det chunnt de Frosch, und wo isch de Seerugel?»

Eine Pianolegende
Freddy Zimmermann geht einige Stockwerke hinauf in den Saal, um sich am hauseigenen Flügel einzuspielen. Mit einer brillanten Interpretation von «La vie en rose» empfängt er später die Schulkameraden, die an kleinen Tischen Platz nehmen.
Unmerklich gleitet die Chansonmelodie in ein Jazzthema, das durch viele Variationen geht und schliesslich in die Noten von «La mer» mündet. Das Publikum wippt, summt, Zimmermann lächelt. Er macht eine gute Figur: hellgrauer Anzug, blaue Augen, starke Ausstrahlung, dabei ist er heute vom Spital ins Pfrundhaus gekommen. Er ist eben Vollprofi – und eine Pianolegende. Noch bis vor wenigen Jahren trat er in den Bars der besten Hotels auf, im Storchen, im Widder, im Dolder. Sein Spiel ist so leicht, dass dazu geplaudert werden kann. Edith Wolf und Berti Weber berichten, was sie über die anderen Ehemaligen erfahren haben und richten Grüsse aus. Sie haben eine Liste mit allen aktuellen Adressen gedruckt, damit die Kollegen miteinander Verbindung auf-nehmen können.
Und nun zum Gesang! Freddy Zimmermann hat ein Wunschprogramm mit Liedern zusammengestellt, die Texte werden ausgeteilt. «Mis Dach isch de Himmel vo Züri!» regen einige an, sofort schlägt Zimmermann das Motiv an, doch gerade dieser Text ist nicht vorhanden, so entscheidet man sich für zwei alte Volkslieder und das «Abig-Glöggli» von Artur Beul. Das Duo Wolf und Zimmermann begleitet vierhändig, und wenn der Gesang dünn wird, die Strophen nicht mehr sitzen, hilft Freddy mit seiner tiefen, vollen Stimme.

Niderdorfgoofen für immer
Nach dem Singen verlegt sich die ganze Gesellschaft in die sonnige Cafeteria. Im Seitenflügel mit Gartenblick ist ein wunderschöner Tisch gerichtet, Canapés und Süssigkeiten werden gereicht. Man spricht angeregt über Vergangenes und Gegenwärtiges.
Ernst Bachmann neckt Edith Wolf: «Du warst ja fast ein Bub, das ist ein Kompliment, im Fall. Und eine Achtung hatte ich vor dir: Wenn ein Kind geplagt wurde, bist du immer eingeschritten.» Edith Wolf verlegen: «Jetzt habe ich gemeint, ich wisse so viel von meinem Leben, und du erzählst mir lauter Neuigkeiten.» Kurt Wehrli lebte im Haus zum Rüden und an der Zähringerstrasse. Im Quartier lernte er Drogist, doch als es darum ging, eine Existenz aufzubauen, kam der Krieg, und die jungen Männer wurden zum Aktivdienst eingezogen. Trotz dieser Einschnitte konnte er ein Geschäft gründen. Seit 63 Jahren hat er eine Drogerie in Langnau und arbeitet jede Woche!
Fast alle ehemaligen Mitschüler verliessen die Altstadt, wegen der Arbeit oder mangels Wohnung. Die Frauen zogen oft nach der Heirat fort. Aber bei jedem Klassentreffen, so Kurt Wehrli, hätten sie stolz zueinander gesagt: «Jetz chömed d’Niderdorfgoofe!»
Lisel Balsiger wäre gerne an der Pfalzgasse geblieben, im Haus zum Kindli, wo ihre Familie seit drei Generationen eingemietet war. Im Parterre lag das berühmte Künstlerlokal «Kindli». Sie bekam einen Sohn, vierte Generation, aber dann war Schluss: Kündigung wegen Umbau. Der Wohnmarkt war ganz ausgetrocknet und Lisel Balsiger wurde aus Not erfinderisch. Sie arbeitete in einer Bank am Weinplatz und wann immer ein Kunde anrief, fragte sie ihn höflich, ob er eine Wohnung wüsste. So kam sie in Seebach unter, und ist dort geblieben.
Freddy Zimmermann und seine schöne Frau verabschieden sich als erste. Dann bricht Kurt Wehrli auf, er muss in die Drogerie. Die anderen Gäste werden von Angehörigen oder Fahrdiensten heimbegleitet. Berti Weber wohnt am Toblerplatz, munter sagt sie Adieu: «Ich gang uf’s Sächsitram!»
Edith Wolf ist entspannt und müde. «Man spürt es zum Glück erst, wenn alles vorbei ist», meint sie, «aber schön wars.»

Daniela Donati