Du Dorf du!

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Unser Gastschreiber Werner Fessler hat mehrere unterschiedliche Begegnungen mit der Altstadt hinter sich, in der er seit bald zwanzig Jahren lebt.

Das Dorf lernte mich in meinem jugendlichen Alter von etwa 17 Jahren kennen. Als fanatisierter Jazzjünger lernte ich den gleichgesinnten Willi aus der Parallelklasse im St. Galler Gymi kennen. Er spielte Klavier wie Oscar Peterson und durfte bereits ein Auto lenken. Dieses führte uns ins «Africana» im Niederdorf, ein Jazzlokal im heutigen Hotel Scheuble. Nie vergessen werde ich Dollar Brand. Aber auch lokale Grössen, wie Alex Bally am Schlagzeug, blieben in der Erinnerung.
Auf die nächsten Begegnungen musste das Dorf bis zu meiner Studentenzeit warten. Dann aber wurde unsere Beziehung ziemlich heftig.
In der Zwischenzeit wurde ich zweifacher sehr junger Vater in einer eher wilden Ehe, die wir nicht halten konnten. Und haltlos verliefen oft auch die Besuche, die ich in dieser Zeit dem Dorf abstattete.

Auf Beizentour
Sie bestanden aus mehreren Runden durch mehrere Lokale, vielen sicher wohlbekannt: «Züri-Bar», «Kontiki», «Malatesta», «Casa-Bar», «Bodega», «Blutiger Daumen», «Stadt Madrid» und einige mehr, round and round, bis sich auch bei mir alles drehte. Hoi du, tschau du, ein Schwatz hier, ein Poker da und überall Magdalener, Klevner oder Rioja tinto. Mal mit Rolf, mal mit Peter oder Luc.
Mit Rolf ging es auch mal gediegen her mit einem Start im «Red House» – unten Striptease, oben Fresstempel. Hier oben wärmten wir uns mit einem guten Steak auf für die spätere Tour. Rolf wusste, dass im Keller herausragende uralte Weinflaschen lagerten, viele älter als es die übliche Genusszeit vorschrieb. Ein Kellner beriet uns, was zurzeit gerade verfügbar war: längst über die Trinkreife gealterte und vergessene Burgunder- oder Bordeaux-Weine, die zu einem «Schnäppchenpreis» ausgeschenkt wurden. Oft schwer, fast ölig, manchmal sehr eigenartig, aber auch wunderbare Gaumenfreuden, die wir welt- und fachmännisch schlürften.
Peter war der Pokerer, mit ihm blieb das Spiel immer freundschaftlich. Das Geld war zwar mit im Spiel, spielte aber keine Rolle. Am Schluss wurde es wieder aufgeteilt. Allerdings blieb es unsichtbar unter dem Tischtuch versteckt. Selten mal kam es vor, dass ein Fremder mitspielte, ohne dass sein Verlust wieder ausgeglichen wurde. Auch der Wein spielte mit, wenn das Lokal schloss, zogen wir ihm ins nächste nach.
Luc spielte Pingpong, Schach und Billard. So bekam das Dorf noch ein anderes Gesicht: Im «Schluuch» schlugen wir Schlachten, Luc immer einen Tick voraus, mühsam für mich und trotzdem toll. Bei allem körperlichen Kampf waren unsere Wortgefechte mindestens so er- und anregend. Ich glaube, er war es auch, der mir die «Pigalle-Bar» zeigte: Ein fantastisches, riesiges Mosaik mit Szenen aus Paris. Klar zeigte mir das Dorf auch seine Schönen, die Tragischen, die Heiteren, die Schmachtenden, die Sehnsüchtigen, die Liebenswürdigen, die Aufmerksamen, die Wärme spendenden, die Tröstenden, die gleich und anders Gesinnten und Gearteten.

Neue Sittsamkeit
Nach zwei, drei Jahren Lotterleben fanden wir uns und aus einer Studienbekanntschaft entstand wenige Jahre später eine neue Familie mit zwei weiteren Kindern. Das Studium war zu Ende, der Beruf rief zu Pflicht und Ernst des Lebens. Das Dorf musste auf mich verzichten. Besuch auf Durchreise, allenfalls auf Ansage. Vereinzelter Ausgang zu zweit oder mit Freunden, bei einem Gläschen Wein, keine Flaschen. Eine Veranstaltung im Voltaire, ein Film im Movie oder Alba.
Doch dann, nach Lehr- und Wanderjahren in Institutionen, kam der Ruf des Dorfes wieder an mein Ohr. Die Zähringerstrasse gab mir Arbeit und Verdienst. – In Gemeinschaft mit Freundinnen und Freunden übte ich meinen Beruf aus. Mitten im Strassenstrich pflegte das Dorf mit mir eine gesittete Beziehung. Mittagsbrot im «Marion», abends zur Entspannung ein Bierchen im «Zäh». Die nahe Zentralbibliothek bekam mich auch zu sehen, sehr gesittet. Ob das Dorf mich wiedererkannte, weiss ich nicht, ich glaube, ich war ein anderer.
Aber auch das Dorf wurde ein anderes. Viele der geliebten Ziele meiner Rundwanderungen verliessen das Dorf oder es stiess sie von sich ab. Einige wurden wie ich ebenfalls sittsam, sie wandelten sich ins Gehobene oder Fremdländische. Die «Stadt Madrid», das «Schäfli», das «Red House»… Anderen wurde ich fremd, nur noch ein Tourist.

Kreise schliessen sich
Doch das Dorf liess nicht locker. Als vor zwanzig Jahren unsere Tochter und unser Sohn eigene Wohnungen bezogen, erinnerte es sich an mich und uns. Es bot uns die Schipfe an, wo wir seither auch wohnen. Ein schöner Ort, genau zur richtigen Zeit für uns herausgeputzt mit dem autofreien Limmatquai. Kühlendes Wasser, Bäume vor dem Haus, ein Garten dahinter, ein Paradies, des Dorfes schönster Ort. Endlich nicht nur Gast, Tourist oder Werktätiger, sondern hier heimischer Bewohner.
Neue Gesichter und Namen, die jetzt Nachbarn und Freunde sind, auch am Tag, auch in der Freizeit oder am Wochenende.
Und ein anderer Kreis begann sich zu schliessen. Vor bald dreissig Jahren schenkte mir meine Frau Franziska ein Saxophon. Seit meiner Pensionierung erfüllt es mir einen Jugendtraum, Jazz zu spielen, zu improvisieren, zu jammen.
Eine erste Musik, bei der ich mitspielen durfte, lernte ich auf dem Lindenhof dank Alice kennen, ihre Musik, die frühere Dorfmusik, heute «Bandella delle Millelire».
Nach vielem Üben und weiteren musikalischen Begegnungen nahm das Dorf mich nochmals in die Arme: wir spielten einmal im Monat Apérojazz in der «Splendid-Bar». Besitzerin Rosemarie Obrist schwärmte davon, wie vor vielen Jahren Dollar Brand auf ihrem Flügel übte.

Werner Fessler


Unser Gastschreiber
Werner Fessler (1945) ist in St. Gallen aufgewachsen, arbeitete drei Jahre als Lehrer auf dem Land und kam 1968 nach Zürich. Nach Abschluss seines Psychologiestudiums an der Uni war er fünf Jahre Assistent (für Statistik und Methodik). Es folgten zehn Jahre Tätigkeit bei der Jugend- und Drogenberatungsstelle «Drop-in». Weitere zehn Jahre arbeitete er in einer Psychoanalytischen Praxis
in der Altstadt. Ab 2000 wirkte er als Heilpädagoge in der Schule Nordstrasse und ab 2010 half er die Website atlasmathe.net aufzubauen, die er nach seiner Pensionierung ehrenamtlich bis heute weiterbetreut.
Er hat vier Kinder und sieben Enkel und lebt mit seiner Frau Franziska seit 2003 an der Schipfe. Er spielt Saxofon, unter anderem bei der «Bandella delle Millelire».