Weniger Stubenhocken

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Unsere Gastschreiberin Catherine Rukkers lebt seit einigen Jahren in der Altstadt. Sie beschreibt, wie sie an einem Sonntagnachmittag die Schwerkraft und ihre eigene Bequemlichkeit überwindet…

Wie schön es doch ist, in der Altstadt zu leben, denke ich mir an einem späteren Sonntagnachmittag auf der Suche nach Beschäftigung. Ich sollte heute mal noch aus dem Haus, schliesslich bin ich ja noch jung. Etwas Kulturelles, sag ich mir. Etwas Kultur tut gut. Schön, dass man im Quartier an fast jeder Ecke über ein Theater stolpert und man seinem Spiegelbild alle paar Atemzüge in einem Schaufenster einer Galerie begegnet. Langweilig wird es einem nicht. Können könnte ich viel. Im Theater war ich aber seit ich hier wohne nie, zur Cüpli-Prominenz der Rämistrasse wurde ich leider auch nie eingeladen. Braucht man dafür Geld? Kunst geniesse sich damit besser, habe ich gehört. Will ich denn einfach nicht? Bin ich zu bequem geworden? Wenn ich schon eine so tolle Wohnung mit Blick auf die eindrücklichen Gebäude der Altstadt habe, da sollte ich doch auch meine Zeit in meinen eigenen vier Wänden geniessen. Netflix, Amazon Prime und Disney+ leisten mir dabei gerne Gesellschaft.
Wer sagt denn, dass Stubenhocken schlecht ist? Ich zahle doch schliesslich dafür. Ich ertappe mich dabei, wie meine Beine mich schon selbständig langsam aufs Sofa tragen wollen. Nein! Filme schauen kann ich auch im Kino, hocken kann man dort auch ganz gut und ist weniger «Asi». Na gut, ich habe mich selbst überzeugt. Was heisst denn hier überzeugt, ich arbeite schliesslich in der Filmbranche. Die Kinos sollen doch nicht von Streaming-Plattformen verdrängt werden – was bin ich denn für ein Beispiel! Ich werfe einen Blick aus dem Fenster – gut, es regnet gerade nicht, diese Ausrede habe ich also auch nicht mehr. Ich tausche Pyjama gegen bequeme Jeans und meinen Lieblingspullover – soll ja schliesslich auch im Kino gemütlich sein – und mache mich auf den Weg.

Kino zelebrieren
Früher war ich oft im Kino. Ein gelungener Teenie-Mädelsabend beinhaltete häufiger einen Kinobesuch als etwas anderes. Davor gab es immer eine intensive Diskussion und Abwägung der Filmauswahl – Trailers, Reviews und die wichtigste Frage: Spielt Robert Pattinson mit? Nun sitzen aber kaum noch Jugendliche im Kinosaal. Das Kino war auch immer eine super First-Date-Auswahl. Gemeinsam einen Film schauen und sich danach auszutauschen, scheint aber auch nicht mehr en vogue zu sein. Wer geht denn heute noch ins Kino?  Man ist sich mittlerweile so gewohnt, sämtliche Informationen innert 15 Sekunden zu konsumieren und kann sogar innert kürzester Zeit selbsternannte*r Expert*in zu zahlreichen Themen werden (danke Instagram und Tiktok). Immer auf der Suche nach neuen Stimuli ist ein klassischer Film wohl reine Tortur geworden. Das Kino scheint mir mit dieser Problematik stärker als andere Kultursparten betroffen zu sein. Schade! Früher war das Kino so beliebt wie die aufregendste Achterbahn auf dem Jahrmarkt und hat in der Gesellschaft mit der Schweizer Filmwochenschau eine zentrale Informationsfunktion geleistet. Das Kino ist vielseitig. Das Kino sollte eigentlich zelebriert werden! Es freut mich mit diesem Gedanken, dass ich für ein Filmfestival arbeite, das den Kinos wieder ausverkaufte Säle beschert. Zurück zu meinem Kinobesuch. Ich freue mich darauf!
Als Ort für meinen Kinobesuch habe ich das Arthouse Alba auserkoren. Ein Kino, das seit mehr als 60 Jahren in Betrieb ist. Dort angekommen bin ich froh, meine wohlige Stube verlassen zu haben. Das Kino hat eben doch einiges zu bieten, was es zu Hause nicht gibt. Gerade die ehrwürdigen Kinos in der Altstadt. Direkt beim Betreten des Kinos sauge ich die Atmosphäre des Kinos auf, an der Kasse schnell noch das Ticket abholen und gleich noch einen Snack schnappen, der im Kino sowieso immer besser ist als zu Hause, völlig egal, wofür man sich entscheidet. Dann ab in den Kinosaal mit den dunkelroten Sitzen, noch kurz bequem machen, dann verdunkelt sich der Saal auch schon und es heisst: Film ab!

Filme erleben
Toll wars, denke ich mir, als ich nach knapp zwei Stunden den Kinosaal verlasse. Das sollte ich öfters machen. Filme erlebt man auf der grossen Leinwand tatsächlich anders, das ist nicht nur eine elaborierte Marketingmasche. Schade eigentlich, dass so viele Leute mittlerweile lieber in der Stube hocken, anstatt Filme im Kino zu erleben (ja, das ist mehr erleben als schauen!). Das spüren auch die Kinos, die nach und nach schwinden. Das Kino Frosch ist davongehüpft, das Kosmos vom schwarzen Loch verschluckt worden und auch das Le Paris soll bald zum «petit» Paris werden. Wieso denn? Ich fühle mit mitschuldig – wir Stubenhocker*innen schaden der Kultur.
Beim ganzen Schwelgen und Reflektieren habe ich nahezu vergessen, welchen Film ich eigentlich geschaut habe. Es war «The Banshees of Inisherin», ein Film übrigens, der seine Premiere beim Zurich Film Festival gefeiert hat. Auch das ZFF setzt sich dafür ein, die Leute zurück in die Kinos zu bringen, nicht nur in den zwei Wochen im Herbst. Bereits am 4. Februar startet auch wieder das ZFF für Kinder mit Workshops für Kinder und Jugendliche, damit künftige Generationen ihre Mädelsabende und ersten Dates hoffentlich wieder im Kino verbringen werden.
Auch ich nehme mir vor, fortan regelmässiger ins Kino zu gehen, wie ich mir das nach jedem Kinobesuch vornehme. But this time for real, ermahne ich mich selbst. – Und ich hoffe, dass ich auch einige von euch inspirieren konnte, wieder häufiger einen Film in einem unserer wunderbaren Kinos der Altstadt zu erleben, anstatt zu Hause auf Play zu klicken.

Catherine Rukkers


Unsere Gastschreiberin
Catherine Rukkers (1996) ist in Meilen aufgewachsen und absolvierte
an der Kantonsschule Hottingen das Wirtschaftsgymnasium. Von 2015 bis 2021 studierte sie an der Uni Zürich Kunstgeschichte und Filmwissenschaften, mit Bachelor-Abschluss. Parallel dazu arbeitete sie während fünf Jahren im Detailhandel (bei der Confiserie Läderach im HB und bei der Migros), ebenso während der Corona-Pandemie acht Monate für die Infoline des BAG. Je ein Jahr war sie tätig für den Kunstraum Counter Space, absolvierte ein Praktikum beim Kunstmuseum Basel und eines bei der Kantonalen Kulturförderung. Seit 2022 arbeitet sie beim Zurich Film Festival als Assistenz der Geschäftsleitung.
Regelmässig, ein- bis zweimal pro Woche, reitet sie ein Pferd namens Herkules. Sie geht gern ins Kino. 2019 zog sie in die Altstadt, wo sie heute mit ihrem Partner lebt.    Foto: EM