Von Goldach in die Zürcher Altstadt

Unser Gastschreiber Charles A. Weibel schildert in seinem Beitrag seine Annäherung an die Altstadt, die ihn bis heute fasziniert.

Zürich war für mich als kleinen Jungen zunächst einmal jene ferne Stadt – noch weiter weg als St. Gallen –, wo mein Vater jeden Freitag mit dem Zug hinfuhr und von wo er jedes Mal eine spezielle Süssigkeit mitbrachte. Die kaufte er im Jelmoli, einem grossen Warenhaus, wo man, wie er mir erklärte, unter einem Dach von A bis Z alles kaufen konnte. Dort gab es etwas Besonderes, was es sonst nur in Amerika gab: eine Rolltreppe. Die musste man gar nicht hinaufsteigen, auf die musste man nur draufstehen, denn die Treppe selbst fuhr hinauf zum nächsten Stockwerk. Ich war völlig beeindruckt von seiner Beschreibung und fragte mich, wie denn so etwas funktionieren konnte.

Erste Berührungspunkte
Es kam die Zeit der sonntäglichen Familienausflüge mit dem Geschäftsauto, das Vater am Wochenende privat benutzen durfte. Zuerst wurden Ausflugsziele im Kanton St. Gallen angesteuert, bald ging die Reise auch mal nach Zürich. Das war besonders aufregend, weil es dort besondere Attraktionen gab. Einen Flughafen, wo grosse Passagierflugzeuge aus aller Welt starteten und landeten. Einen Zoo, wo es Tiere gab, die ich nur aus «Globi im Urwald» kannte.

Erste Besuche
Später, als ich schon in der Sekundarschule war, durfte ich ab und zu meinen Vater nach Zürich an die Getreidebörse begleiten. Im ersten Stock des Restaurants «Du Nord» traf er sich zuerst regelmässig mit anderen Getreidehändlern zum Mittagessen und zum Kaffeejass. Anschliessend ging man die berühmte Bahnhofstrasse hoch, in der sich damals noch die Autos stauten, und bog irgendwo rechts ab zum Restaurant «Kaufleuten», wo Getreidehändler aus der ganzen Schweiz in einem grossen Saal herumstanden und, mit Preislisten in der Hand, ihre Geschäfte tätigten. Nach der Börse war noch Zeit, um im Warenhaus Jelmoli zu üben, wie man aus dem Gehen heraus gekonnt eine Rolltreppe besteigt und ohne Probleme wieder von ihr runterkommt. Vor der Rückfahrt verfolgte ich beim Hauptbahnhof noch einmal staunend die neusten Nachrichten, die auf dem Dach eines Gebäudes als Lichtband aus dem Nichts auftauchten und gleich wieder verschwanden. Schliesslich sass ich wieder im Zug, erschöpft und leicht betäubt von all den vielen Eindrücken, aber mit dem stolzen Gefühl, die grosse Welt gesehen zu haben.

Erste Wohnadresse
Es war ein prickelndes Gefühl, als ich 1965 in jener grossen Stadt, wo es alles gab und wo die wichtigen Dinge passierten, zum ersten Mal am Abend nicht mehr nach Hause fahren musste. Ich hatte als angehender Student bei der Kirche Fluntern ein Zimmer gemietet und sprang nun werktags jeden Morgen, wie andere Studierende auch, in der Linkskurve vor der Universität aus dem fahrenden Sechsertram, in dem ein Schaffner mit umgehängtem Wechselgeldbehälter Fahrkarten verkaufte. Dass es in dieser grossen, faszinierenden Stadt, die ich gerade zu entdecken begann, einen noch viel faszinierenderen historischen Kern gab, davon hatte ich noch keine Ahnung. Aber der Zufall wollte es, dass ich schon knapp ein Jahr später durch Vermittlung eines Freundes an den Unteren Zäunen 5 mein zweites Zimmer in Zürich beziehen konnte. Das Haus hiess «Zum fliegenden Fisch» und war von der besonderen Art. Es war während längerer Zeit leer gestanden, baufällig, vergammelt, ohne Wasser und ohne Strom. Dann hatte eine Gruppe von Studierenden, die auf Zimmersuche waren, den nicht genutzten, aber dringend benötigten Wohnraum entdeckt und «instandbesetzt». Der Eigentümer, ein gewisser Max Bill, war schliesslich bereit, den Studierenden das ganze Haus zu einem bescheidenen Preis zu überlassen, was für jene Zeit eher aussergewöhnlich war und unter den BewohnerInnen auch eine aussergewöhnliche Aufbruchstimmung erzeugte.
Als ich dazukam, war zwar die Pionierzeit mit Kerzenlicht und Wasserholen am Brunnen schon vorbei. Aber der Pioniergeist und die Aufbruchstimmung waren immer noch lebendig. Wir alle hatten uns gerade von der damals üblichen Schlummermutter emanzipiert und wollten auch von Muttern unabhängig werden. Wir renovierten unsere Zimmer selbst, kochten zusammen unser Essen und schickten unsere Kleider zum Waschen nicht mehr nach Hause. Und wir waren gierig nach allem, was nicht gut bürgerlich und «bünzlig» war, sondern vergammelt, unkonventionell und ausgeflippt. 1968 und Flower Power waren eben bereits spürbar. Bald wurde im «Fliegenden Fisch» fast jeder Tag zum Happening. Wir tanzten bis spät in die Nacht zur Musik der Beatles, Rolling Stones und Bee Gees, wurden am Morgen höchstens durch das laute Scheppern der Kehrichtkübel geweckt, liessen darauf eiligst unseren vollen Kübel, an einer Plastikwäscheleine mit Haken und unter Zuhilfenahme von Gartenhandschuhen, vom Fenster im fünften Stock hinunter gleiten, dankten den Kübelmännern fürs Leeren und Wiedereinhängen und zogen den leeren Kübel stolz wieder ins Zimmer. Etwas später kauften wir dann im Migros-Auto, das direkt vor der Haustüre Halt machte, alles ein, was wir zum späten Frühstück um 11 Uhr brauchten. Eine derart fröhliche Baracke zog natürlich viele Gäste an: Die ersten kamen bereits zum Frühstück. Und wer am Abend den Zug in die Provinz nicht mehr schaffte, fand hier für eine Nacht immer ein ausrangiertes Bett mit durchhängender Matratze. Es kam vor, dass am Abend spät ein Rucksacktourist an der Haustür läutete und sagte, er habe in Paris gehört, hier könne man gratis übernachten. Für mich war die Zeit im «Fliegenden Fisch» nicht nur eine äusserst anregende und aufregende Zeit, sondern eine wichtige, zweite Sozialisation, die mich geprägt hat.

Dreissig Jahre am Neumarkt
Inzwischen war mir klar geworden, was für ein Bijou die Zürcher Altstadt darstellt. Ich empfand es als grosses Glück, dass ich als Ausserkantonaler durch Zufall hier gelandet war, und wollte nach dem Studienabschluss und nach Aufenthalten im Ausland unbedingt wieder in der Altstadt wohnen. Tatsächlich gelang es mir bei meiner Rückkehr aus dem Ausland, mich 1976 gleich wieder in der Altstadt anzusiedeln. So wurde der Neumarkt, die schönste und interessanteste Gasse von Zürich, wie ich zu sagen pflegte, für dreissig Jahre mein Lebenszentrum. Nun war ich ganz definitiv in der Altstadt angekommen. Ich begann mich für die Vergangenheit und die Zukunft der Altstadt zu interessieren, machte ab und zu kleine Führungen für ausländische Gäste und engagierte mich ab 2001 im Vorstand des Quartiervereins Zürich 1 rechts der Limmat. Dadurch lernte ich die Altstadt noch viel besser kennen und noch mehr schätzen. Heute wohne ich am Napfplatz, freue mich nachts über das Plätschern des Brunnens, frühmorgens über das muntere Gezwitscher der Vögel und bin dankbar für jeden Tag, den ich in unserer einmaligen Altstadt leben darf.

Charles A. Weibel

Unser Gastschreiber
Charles A. Weibel (1944) stammt von Goldach am Bodensee. Besuchte die Kantonsschule in St. Gallen, absolvierte ab 1966 die Sekundarlehrer-Ausbildung (phil. I) an der Uni Zürich. Es folgten einige Jahre Praktika in der Schweiz und Jobben und Reisen in Europa. Ab 1976 arbeitete er 25 Jahre in der Lehrlings- und Mitarbeiterausbildung der damaligen Schweizerischen Kreditanstalt, heute Credit Suisse, in Zürich, und zwar im Bereich mündliche und schriftliche Kommunikation. Seit 2001 ist er selbständiger Ausbilder für Mitarbeitende von grossen und mittleren Unternehmen.
Er wohnt seit 1966 in der Altstadt, wirkt seit fünf Jahren im Vorstand des Quartiervereins Zürich 1 rechts der Limmat mit und leitet die Arbeitsgruppe Lärm des QVs. Er singt im Altstadtchor, früher war seine Stimme auch an der Fasnacht zu hören, durchs Megafon.