Dem Wasserlauf gefolgt

Unser Gastschreiber ist einerseits begeistert vom Dorf­leben im Niederdorf. Doch macht er sich auch Sorgen, wenn er die ­abnehmende Vielfalt betrachtet.

Ich habe nie im Niederdorf gewohnt. Wobei das genaugenommen nicht ganz stimmt. Aufgewachsen bin ich gewissermassen im Dorf am entgegengesetzten Ende. Nicht im Oberdorf. Der Name würde zu meinem Dorf aber auch gut passen. Denn Schmerikon ist das Dorf am Anfang des Obersees, am anderen Ende des Zürichsees. Dort, wo die Linth ihr Flussleben aufgibt, um es ein biss­chen ruhiger anzugehen, bis sie am Ende des Untersees als Limmat am Niederdorf vorbeifliesst. Wie jedes Seekind habe auch ich mich beim ­Baden hie und da erleichtert. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich meinen abgesonderten Harnstoffen nach Zürich folgen sollte. Das Niederdorf wurde sehr bald zu meinem Dorf in der Stadt.

Eintrittsticket ins Dörflileben
Im Jahr 2002 lernte ich am Vorkurs der Kunsthochschule in Zürich Thomas Schertenleib kennen. Uns verband unser Interesse an Musik, an Rap im Speziellen. Thomas, ein Ur-Niederdorfkind, entpuppte sich auch gleich als Eintrittsticket ins Dörfli­leben. Thomas’ Bruder Michael wurde zu meinem Partner bei unserem Musikprojekt Larry F. Und deshalb muss ich genaugenommen sagen, dass ich nur offiziell nie im Dörfli gewohnt ­habe. In den letzten Jahren habe ich nämlich unzählige Nächte dort verbracht. Die ersten Jahre noch an der Brunngasse, in der Elternwohnung von Micha und Thomas. Ursi Schertenleibs Lachstortellini sind noch in bester Erinnerung. Sie hat uns liebevoll bekocht, obwohl ihr unser «Krach» manch eine Nacht den Schlaf raubte. Später verlegten wir unsere Aktivitäten in Michas Wohnung an der Schoffelgasse, die mit ihrem ­Homestudio im Wohnzimmer immer noch als Schaltzentrale von Larry F dient. Momentan herrscht dort übrigens wieder besonders viel Betrieb. Wir arbeiten gerade intensiv an unserem nächsten Album.
Über die Gebrüder Schertenleib lernte ich viel Niederdorfvolk kennen. Und so waren mir etliche Wohnungen, Dachterrassen, Dörflioriginale, Bars und Lädeli schon bekannt, als ich im Jahr 2012 anfing, an der Froschau­gasse zu arbeiten. Jetzt lagen also die Zentren meiner musikalischen Leidenschaft und meiner Arbeit als Kameramann und Cutter bei Corpmedia beide im Niederdorf. Auch mein Wohnsitz rückte ein Schrittlein näher. Vorerst nur nach Rapperswil. Die Wochentage und nach wie vor viele Nächte verbrachte ich aber im Niederdorf.
Das Dörfli ist übrigens auch in unserem Musikschaffen verewigt. Im Video zu «D’Strass vor dim Hus» reiten und torkeln wir wahlweise hoch zu Ross oder kaum noch auf den Beinen durch die engen Gassen. Eine besondere Freude war es auch, als wir dreimal am Dörflifest auf dem Hirschenplatz auftraten. Die Konzerte fühlten sich natürlich an wie Heimspiele.

Dorfcharme
Manchmal erinnert mich das Dörfli an die Ferien in Ardez bei Scuol, wo das Haus meiner Grosseltern steht. Mir hat das Dorfleben immer gefallen. In der Bäckerei, der Metzgerei, der Käserei und später im Volg hat man sich gekannt und gegrüsst. In Schmerikon haben es mir der Dorffischer oder die weit herum berühmte Bäckerei Tschirky besonders angetan.
Dieser Dorfcharme begegnet mir auch im Niederdorf. Fränzi vom «Läbis 1» ruft «Guete Morge», wenn ich zur Arbeit gehe. Jürg vom Gravierlädeli will kurz schwatzen. Oft erzählt er dann eine kleine Anekdote aus dem Dörfli. Oder die Altstadt-Ikone Dora Koster übernimmt das Erzählen, wenn sie vor dem «Isäbähnli» sitzt und Rauchwolke um Rauchwolke in den Dörflihimmel bläst.

Dunkle Wolken
So lebendig das Dorfleben im Niederdorf ist – manchmal sehe ich dunkle Wolken aufziehen. Das Dorf verändert sein Gesicht. Es scheint, als wäre ein plastischer Chirurg am Werk, der jede Alters- und Charaktererscheinung ausmerzen will. Immer mehr kleine Läden gehen ein. In den letzten zehn Jahren ist mir aufgefallen, dass die Vielfalt immer mehr abnimmt. Schuh- und Kleiderläden so weit das Auge reicht. Die Touristenströme ziehen durch die Gassen, und auch das Volk aus Zürich und Umgebung kommt hierher, um einzukaufen. Da haben die kleinen Spezialitätengeschäfte, die mir so gefallen, natürlich einen schweren Stand.
Es ist sicher naiv, sich ein Dörfli ohne McDonalds, Starbucks, Coop und ­Migros zu wünschen, ein Engadiner Bergdorf mitten in der grossen Stadt. Aber meinen Kaffee trinke ich halt doch lieber im «Henrici». Und die Metzgerei Zgraggen ist mir auch immer einen Besuch wert. Heute macht sie ihren Umsatz sicher vor allem mit Mittagsangeboten und nicht mehr mit dem traditionellen Fleischverkauf.
Die Vielfalt existiert noch. Aber man muss zu ihr Sorge tragen. Deshalb vergiesse ich auch eine Träne, wenn ich höre, dass legendäre Bars wie beispielsweise die «Züri-Bar» schliessen sollen.
Nichtsdestotrotz ist das Dörfli immer noch das charmanteste Quartier in Zürich, wenn nicht gerade Tutu tragende Polteraffen johlend den Frieden stören. Umso charmanter, je besser man es kennt. Und ich geniesse es nach wie vor, hier so viel Zeit zu ­verbringen. Letztes Jahr bin ich von Rappi nach Zürich gezogen. Dabei bin ich allerdings übers Ziel hinausgeschossen. Ich wohne jetzt direkt bei den Viadukten in der Nähe der Hardbrücke. – Offiziell habe ich noch nie im Niederdorf gewohnt. Aber meine Kreise werden immer enger. Falls Sie eine Wohnung zu vergeben haben: Ich wäre interessiert. Für mich wäre es eher ein Heimkommen als ein Umzug an einen neuen Ort.

Lars Badertscher


Unser Gastschreiber
Lars Badertscher (1985), bekannt als Larry F, ist in Schmerikon am Obersee aufgewachsen. Gestalterischer Vorkurs und Lehre als Fotograf, sodann gearbeitet bei Hotelplan, selbständig und drei Jahre beim Schauspielhaus. Mit zwölf hat er angefangen mit Musik, seit 2004 als Larry F. 2009 Album «Ufojugend», 2011 ­Futurekids «Schebegeil». Daneben gearbeitet als Fotograf, ­sodann ein Jahr Praktikum bei einer Filmproduktionsfirma. Seit 2012 tätig bei Corpmedia an der Froschaugasse (Kameramann und Postproduction). 2014 folgte das Album «Irgendöppis mit 2000». Er wohnte sechs Jahre in Rapperswil, seit anderthalb Jahren in Zürich. Er macht Musikvideos. Und trainiert Thaiboxen.