Hier bin ick, hier bleibe ick

Von weit hergekommen ist unsere Gastschreiberin Jördis Wenzlaff. Nun, wo sie hier ist, will sie gar nicht mehr weg.

Mein Weg ins wunderschöne Niederdorf war weder geplant noch absehbar. Es war ein fabelhafter Schicksalsschlag.
Geboren und aufgewachsen fünfzig Kilometer südlich von Berlin in einer damals umwerfenden Kleinstadt im tiefsten Osten Deutschlands namens Luckenwalde verbrachte ich eine grossartige Kindheit. Natürlich war abzusehen, dass die Grossstadt reizt und es folgten ausdauernde und aufregende Aufenthalte in der Hauptstadt.
Die Kreisstadt wurde farblos, Studienplatz in Berlin gabs nicht (habe wohl die Anmeldefrist verpennt) und so ging ich für gewaltige, ebenfalls nicht geplante fünf Jahre als Animateurin in spanische Gefilde. Auf den Balearen und Kanaren konnte ich mich austoben und habe mich in der Kinder- und Sportanimation verwirklicht. Auf Menorca von der Gewerkschaft VERDI entdeckt, sollte das meine letzte Saison und mein Neuanfang in Leipzig werden. Nach ehrenamtlicher Tätigkeit für die Gewerkschaft absolvierte ich eine Ausbildung zur Internationalen Touristikassistentin (dieser Titel bringt und brachte mir bisher nix, aber jelernt is jelernt). Alle Wege führten unausweichlich zurück nach Berlin. Dort schwanger geworden, suchte ich nach einem Fleck Erde, der es mir erlaubt, meinem Kind eine gute Zukunftsperspektive zu bieten. Et voilà, die Weichen für einen Kurztrip nach Zürich waren gestellt.

Bejeistert
Im Jahr 2010 kam ich mit meiner ­damals sechs Monate alten Tochter Johanna in Zürich an und es war schnell klar, dass diese Stadt unser dauerhaftes Zuhause sein wird. Nicht nur, weil ich Freunde hatte, die mich in der Anfangszeit unterstützt hatten, sondern weil diese Bleibe einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Warum? Mein erster Gang durchs Niederdorf zum damaligen Züri Fest hat mich nachhaltig beeindruckt. Heimatgefühle kamen hoch, als es wie an der Loveparade 1999 roch, die Gassen vollgestopft waren wie zum Karneval der Kulturen und der Döner 20 Franken gekostet hat. Kurzum bejeistert war ick!
Schon waren die Koffer gepackt, und der Umzug war geritzt. Bevor die ­Wohnung in Affoltern gewiss und ein Job klar waren, gabs einen Krippenplatz in einer bilingualen Kinder­tagesstätte. Viele sagten, der Krippenplatz wäre ein Sechser im Lotto, ick hätte die Kohle zwar och jenommen, war dennoch mehr als zufrieden.
In der Zeit, in der Johanna versorgt war, machte ich mich auf die Socken zwecks Jobsuche, was schneller zum Erfolg führte als gedacht. – Rumjerudert, einjelenkt, Spitalgasse 14, «Barfüsser»: ich kam, sah und siegte. Mein erster Job sollte bis dato auch der letzte sein.
Der erste Blick in den «Barfüsser» war durch den «Barfüsser», von der Spitalgasse in die Brunngasse, aber vorher sprang mir die Aussenterrasse in die Glotzkorken (Augen). Ich fühlte mich wie in Berlin der Neunzigerjahre und war verknallt. Dit Herz hat jepocht und Keule (ick) war glücklich. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde und zwei Prosecco am Tresen hatte ick den Job und dit Herz hat noch schneller jepocht. Von nun an jing et rund.

Zweites Zuhause
Viele Abende verbrachte ich in diesem zweiten Zuhause und gab den endgültigen Startschuss in unser neues Leben. Aber jede Medaille hat zwei Seiten. Das Bermudazweieck Niederdorf – Affoltern eröffnete sich als ein grosser Stressfaktor. Die anfängliche Dankbarkeit, endlich eine Wohnung in der Mieterwüste Zürich gefunden zu haben, brachte sehr schnell Probleme mit sich, sei es die Distanz, die fehlende Zeit mit Johanna oder die hohen Ausgaben für den Arbeitsweg und Babysitter. Der Wunsch nach einer Wohnung in der Nähe von meiner Arbeit wurde immer grösser und so passierte wieder – mit sehr viel Glück, ostdeutschem Charme und Berliner Reinlichkeit – Veni.Vidi.Vici.
Wat soll ick euch erzählen, ihr wisst et doch selber, dit Leben im Dörfli ist tausendschön. Ich könnte nicht glücklicher und dankbarer sein, mein Kind hier aufwachsen zu sehen. Auch unser zuvor etwas angeknackstes Verhältnis zum Zeitmanagement hat sich radikal geändert. Der Luxus, den ich als alleinerziehende Mutter erfahre, da ich im selben Haus wohne sowie arbeite, ist unbezahlbar. Für die einen mag es ein Fluch sein, doch für mich ist und bleibt es ein Segen. Ick würde sagen, der Segen jeht noch ein Stück weit weiter.

Miteinander
Das Zusammenleben mit den Nachbarn, ob ein Stockwerk höher (Martina, ick liebe Dir!), die Strasse rüber oder auf ein Sprung in die Gasse um die Ecke, das Miteinander hier ist so, wie man es auf keinem Kiez auf der Welt, also weder in Berlin, Lucken­walde noch Affoltern findet. Die Kinder finden den sicheren Weg in die Schule und zurück. An Nachmittagen können sie ohne grosses Verkehrsaufkommen ihrem Miteinander auf der Gasse frönen. Auch ich fröne meinem Dasein in der Spitalgasse und Umgebung.
Die Kopfsteinpflaster erzählen in allen Variationen ihre Geschichte. Im Frühling fliegen die Verliebten übers Pflaster wie in Paris, im Sommer trommeln die Brasilianer um die ­Wette, im Herbst krähen die Möwen in Sylter Manier und im Winter sind wir alle genervt. Von den sibirischen Temperaturen. Weihnachten bin ich nicht da.
Frei Schnauze gesagt, ein Mathegenie war ich noch nie, aber das krieg ick noch hin: Niederdorf = Her mit dem schönen Leben!

Jördis Wenzlaff


Unsere Gastschreiberin
Jördis Wenzlaff (1980) ist in Luckenwalde bei Berlin aufgewachsen. Nach dem Abitur war sie fünf Jahre in ­Spanien im Tourismus tätig, auf den Kanarischen Inseln und auf den Balearen. Es folgten zwei Jahre in Leipzig mit Ausbildung zur Internationalen Touristik-Assistentin, sodann drei Jahre in Berlin. 2010 besuchte sie Freunde in Zürich – und liess sich hier nieder.
Im Restaurant «Barfüsser» an der Spitalgasse fand sie eine Stelle und ein Stockwerk darüber eine Wohnung. Ausbildung zur Betriebsleiterin Gastro, seit einem Jahr ist sie Geschäftsführerin im «Barfüsser». – Sie lebt hier mit ihrer siebenjährigen Tochter Johanna.