Wurzeln schlagen

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Die Gastschreiberin dieser Nummer kommt von weit her, sie stammt aus Taiwan. Seit einigen Jahren lebt sie in Zürich und führt ein Teegeschäft in der Altstadt, an der Spiegelgasse.

Der Himmel durch die Gasse sieht schmal geschnitten aus, und die Gasse führt uns irgendwohin. Vielleicht mündet sie plötzlich dort, wo etwas geschieht. – Ähnlich wie das Leben. Viele Puzzles fügen sich zueinander zur rechten Zeit. Das Leben bekommt auf einmal ein Bild von der Vergangenheit und von der Zukunft. Das Zendojo Zürich hat zwei Ausgänge.
Ich ging gerne zur Spiegelgasse hinaus. So lernte ich Hubert und die Familie Tobler kennen, denen das Haus gehört, in dem ich heute mein Teegeschäft habe. Durch diese Verbindung bekam ich die Chance, eine Vision zu verwirklichen, einen Ort zu gestalten, wo Menschen sich begegnen und sich über einen guten Geschmack bilden können. Sich ausbilden geschieht heute vielfach an einer Hochschule. Sich bilden muss jeder für sich selbst. Einen guten Geschmack zu bilden kann ein grosser Schritt sein, einen anderen Kreislauf zu bewegen, in dem wir durch Reflexion und Erkenntnisse unsere Suche nach innen anstatt nach aussen richten. Somit hat unser Planet vielleicht eine Chance, sich wieder zu erneuern. Diese Gasse ist steil. Diese Steigerung scheuen vielleicht schlendernde Reisende, nicht aber die Suchenden.

Die Tür ist wie ein Fenster
Man erlebt eine Stadt, indem man durch die Gassen flaniert.
Durch die Tür zur Spiegelgasse erlebe ich diese Stadt – oder die Welt. Diese Tür ist wie ein Fenster. Meine Nachbarschaft brachte einen Hauch aus dem Orient vor meine Augen und von der anderen Seite weht der Duft aus Afrika. Nebenan die feinsten Kristallgläser aus ehemaliger Kaiserstadt.
Zu dieser Tür herein kamen zwölfjährige Schüler oder Manager, vom Kaukasus oder aus Übersee, Ankommende oder Suchende. Hinter jedem Gesicht verbirgt sich eine Geschichte. Oder eine Weisheit? Der zwölfjährige Noah beklagte sich über das fehlende Lachen der Erwachsenen. «Es ist schade, dass die Erwachsenen nicht so lachen können wie wir Kinder.» Ich fragte ihn, ob er eine Lösung hätte, wenn er ja doch gezwungenerweise erwachsen werden muss. Er erwiderte: «Jedes Mal, wenn ich auf die chinesische Art Tee zubereite, Tee spiele, werde ich wieder zum Kind. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin.» Serafino bezeichnet mein Geschäft einfach als «den kultivierten Franz-Carl-Weber-Laden». Als die Erwachsene den zwölfjährigen Jungen fragte, ob Tee sein Hobby sei, antwortete Serafino mit einer Souveränität: «Hobby? Hobby ist das, was man in der Freizeit macht. Merkt ihr es nicht, ich bin ernst dabei. Das ist mein Weg.»
Ein Nachbar, der immer wieder kommt, ist Tony. Er sagte, er sei ein Teebaby. Das Teebaby verstand, dass der Tisch an der Spiegelgasse zwar eckig aussieht, aber in Wirklichkeit rund ist. Fremde Menschen treffen sich dort, wo Begegnung und eine Freundschaft beginnt. So lernte ich den Salon im Neuhaus im Oberdorf kennen, als Herr Jecklin auf einmal mit einer Teeschale zur Tür hereinkam. Er sagte danach, dass er sich einfach angezogen gefühlt hätte, diese Gasse hinauf zu gehen.

Neue Freundschaften
Dinge geschehen oft unauffällig nebeneinander. – Man fragt mich oft, warum ich in Zürich gelandet sei. Ich antwortete gern: «Weil ich in einen falschen Zug eingestiegen bin.» Vor fast zehn Jahren kam ich hier an, war unbekannt, neu und scheu. Auch ich wusste nicht, weshalb ich von der Spiegelgasse gewählt wurde.
Am ersten Tag traf ich Walter und Tobias, zwei Goldschmiede aus der Altstadt. Ihr Verständnis von gutem Handwerk und einem guten Geschmack vermittelt mir viel Sicherheit an diesem Standort. Die Liebe zu gutem Handwerk und gutem Geschmack überschreitet die Grenze der Kulturen. Auch ich werde hier Wurzeln schlagen können. Am gleichen Tag begegnete ich Akyoni und ihrer Mutter Georgia. Das Mädchen sass wie eine Queen im Art-Deco-Stuhl und trank Tee. Diese Freundschaft verbindet mich auch mit Menschen aus diesen Gassen. Ich bin nicht allein.
Vor sechs Jahren kam Tim zum ersten Mal mit seinem Vater, weil sein Teatoy zerschlagen war. Der Junge lernte hier als Erstes, «keine Spuren zu hinterlassen». Er verstand es sehr schnell, das Geld zu sparen, um sinnvolle Vorräte anzuschaffen und dass das Leben nur einen Durchbruch erleben kann, wenn er aus der Komfortzone heraustritt. Als er seine Maturarbeit über Tee schrieb und andere Menschen mit seiner Begeisterung anstecken konnte, wusste ich, dass die Samen des Tees bereits auf dem Boden Zürichs spriessen und dass Tee in Europa Wurzeln geschlagen hat.
Nach fast zehn Jahren realisiere ich langsam, weshalb ich hier gelandet bin. Die wechselnden Gesichter am Tisch und ein fester Kern von Freunden ermutigen mich immer weiter auf diesen «Weg» – Serafino ist ernst und ich bin es auch. Wir sind verantwortlich für das, was wir für «lebenswert» halten. Wir sind ebenfalls verantwortlich für das, was ein guter Geschmack bedeutet. Ein Geschmack kann nicht in einem Museum aufgehoben oder
in einer Cloud gespeichert werden. Er kann nur kompromisslos von einer Zunge an eine andere vermittelt werden.

Sich erneuernde Altstadt
Die Altstadt ist nicht alt. Sie ist stets neu, ihre Erneuerung geschieht durch ihre Vielfalt und Offenheit. In diesen engen Gassen erhielten einst prominente Verfolgte ihr Asyl, viele Neuankömmlinge ihre Chance zur Selbstverwirklichung und die Andersdenkenden eine Zuflucht für ihre neuartigen Ideen!
Die Altstadt ist mitten in Zürich. Nicht nur Menschen aus der ganzen Welt kommen hier an, sondern die Welt kommt hierher und bereichert uns.
Ich bin sichtbar eine Fremde und zugleich ein Teil dieser lebendigen Vielfalt.

Meng-Lin Chou

 

Unsere Gastschreiberin
Meng-Lin Chou (1969) ist in Taipeh (Taiwan) aufgewachsen, wo sie Germanistik studierte.
Mit achtzehn Jahren machte sie einen Sprachaufenthalt in England. Sodann studierte sie von 1992 bis 1998 an der Universität Konstanz Soziologie und Germanistik und schloss mit dem Magister ab. Danach arbeitete sie an der Universität Konstanz bis 2007.
Bereits 2003 hat sie angefangen mit Teehandel. 2007 zog sie nach Zürich, seit 2009 hat sie ein Teegeschäft an der Spiegelgasse.