Ankommen

Unser Gastschreiber Joachim Buroh isst gerne Labskaus – nicht erst seit der Hafenkran von seiner Wohnung aus zu sehen war, aber seitdem immer öfter.

Gerade eben beendeten wir den «Männerznacht» im Altstadthaus – Jürg und Martin hatten gekocht, hervorragend, ihr toscanisches Risotto mit einer spitzenmässigen Wurst aus der Metzgerei Zgraggen – als mich Elmar fragte, ob ich Gastschreiber im Altstadt Kurier sein möchte. Ich fühlte mich geehrt: Nach noch nicht einmal sechs Jahren, die ich zusammen mit meiner Familie in der Altstadt lebe, darf ich hier 5500 Zeichen setzen!

Von Hamburch wech
Ich bin Hamburger, Bettina, meine Frau, auch. Unsere drei Töchter sind Berlinerinnen, vor elf (Marlene), vor neun (Liv) und vor sechs Jahren (Toni) sind sie in Charlottenburg zur Welt gekommen. Gelebt haben wir in Kreuzberg. Nach der Schule und dem Zivildienst in Hamburg war für mich klar, dass ich nach Berlin will, zum Studieren. Die Mauer war noch, und Bettina war schon da; am Tag des Mauerfalls am 9. November 1989 bin ich mittags von Berlin nach Hamburg gefahren, kam zu Hause an und sah abends in den Nachrichten, dass ich diesen historischen Augenblick in Berlin knapp verpasst hatte. Ich wollte sofort wieder zurück, durfte es aber leider nicht, der Zivildienst im Krankenhaus liess es nicht zu. Fast zwanzig Jahre habe ich in Berlin gelebt, die meiste Zeit davon in Kreuzberg. – Die Wohnung war dort, die Freunde, das Büro um die Ecke, mit den Kindern kam alltäglich der Kindergarten «Wassertropfen» dazu. Kreuzberg war für uns auch ein bisschen «Kreuzdorf». Mit den Kindern erweiterte sich der Freundes- und Bekanntenkreis, «man» traf sich auf dem Spielplatz am Lausitzer Platz, auf dem Markt am Freitag, im Sommer beim Eisladen (eine Kugel 80 Cent!), in der Pizzeria nebenan oder im Spreewaldbad (echt kalt, aber mit Wellenbecken). Im Görlitzer Park gab es einen Kinderbauernhof. Aus unserer Wohnung guckten wir direkt auf die U-Bahn, und die Menschen aus der U-Bahn zu uns hinein. Heute sehen wir auf die Limmat, den Lindenhof, bei gutem Wetter auf den See und die Alpen – und manchmal auch gegenüber in die Wohnung von Bruno und Helen.

Eine Veränderung
Ob ich mir vorstellen könne, dass wir alle zusammen nach Zürich ziehen, fragte mich Bettina. Sie hatte das Angebot erhalten, ab 2009 am Schauspielhaus Zürich zu arbeiten. Eine Veränderung? Ja, warum eigentlich nicht? Aber so einfach war es dann doch nicht. Ich musste den Ortswechsel zum Beispiel mit meinen Kollegen in meiner Firma klären (ist geklärt!) und überhaupt, es bedeutete – ja eben: eine Veränderung! Das schien spannend, bedeutete aber eine noch grössere Anstrengung als gedacht – und ich bekam erst mal eine Blinddarmentzündung. Dann flog ich für zwei Tage nach Zürich, um mir die Stadt anzusehen, in die wir ziehen wollten. Zimmer im Hotel an der Löwenstrasse, gegenüber der Migros City. Dass ich dort mal so oft einkaufen würde, daran hatte ich noch nicht gedacht. (Nebenbei: Den Umbau des Migros-City-Gebäudes finde ich misslungen, schade.) Ich staunte und ging durch alle möglichen Gassen rechts und links der Limmat, die Bahnhofstrasse hoch und wieder runter. An den See! Ich ging ins Schauspielhaus, war im «Helsinki» (sah und hörte dort eine Band aus Kreuzberg, das war Zufall, wirklich), war in den Kreisen 4 und 5, und ich war natürlich auf dem Lindenhof. Ich machte viele Fotos. Auf der Mauer stehend sind Aufnahmen von dem Garten entstanden, der zu den Häusern an der Schipfe gehört: Genau da wohne ich jetzt mit meiner Familie.

Wo wohnen?
Dass wir in die Altstadt ziehen würden, danach sah es anfangs nicht aus. Eine Wohnung zu finden in Zürich, das war eine echte Aufgabe. Plötzlich hatten wir ein scheinbar sicheres Angebot für eine Wohnung in Höngg. Die war schön, gross, hell und hatte sogar eine Garage. Und bezahlbar wäre sie auch gewesen. Genauso plötzlich war das Angebot wieder weg. Die Suche ging von vorn los, und nach vielem nervenaufreibenden Hin und Her endete sie erfolgreich an der Schipfe 39. Bettina hatte die Wohnung im Tagblatt ausgeschrieben entdeckt, sie besichtigt, und wir bewarben uns um sie mit vielen, vielen anderen Interessenten. Dass wir mit drei kleinen Kindern einziehen wollten war anscheinend der Grund für den Zuschlag.
Am 1. Mai 2009 flogen wir zu fünft von Berlin nach Zürich, um uns gemeinsam die Wohnung anzusehen, für die wir längst Miete zahlten und die wir erst im Sommer beziehen würden. Das war ein besonderer Moment, als wir uns durch das Treppenhaus nach oben gearbeitet hatten, endlich die Tür öffneten und die noch leere Wohnung bestaunen konnten: Ich freute mich auf Zürich!

Tschüß – Grüezi!
Am 29. Juni 2009 zündeten wir auf unserem Balkon in Berlin Wunderkerzen an und verabschiedeten uns so von Kreuzberg. Nur wenige Tage später begleitete ich Marlene zum ersten Termin in das Schulhaus Hirschengraben, dem Schnuppertag für alle zukünftigen Erstklässler/innen. Zum ersten Mal gingen wir den Weg über die Gemüsebrücke, am Gummibärchenladen vorbei, den Rinder- und den Neumarkt entlang, über den vielbefahrenen Seilergraben, über den Pausenhof, hoch in die Klasse von Frau Baumgartner – Grüezi Herr Buroh, Grüezi Marlene – so wurden wir herzlich empfangen. Ebenso herzlich wurden wir von unseren Nachbarn aufgenommen. Danke! (Die Gerüchte, die in Berlin kursierten, dass es in der Schweiz häufig Ärger in den Waschküchen gebe, haben sich nie bestätigt.) – Die musikalische Begleitung während längerer Autofahrten bestand vor dem Umzug nach Zürich lange Zeit aus einer CD mit Schweizer Kinderliedern. So stimmten wir vor allem die drei Mädchen auf die neue Sprache ein. «Schuemächerli, Schuemächerli», dieses Lied hat sich mir eingebrannt – verstanden habe ich damals noch nicht, was mit «drü Bä - tze - li» gemeint war, es klang aber schön. Inzwischen klappt es mit dem Verstehen aber schon ganz gut, finde ich.
Die Altstadt ist wunderschön (meine «Lieblingsgasse» ist übrigens die Kaminfegergasse) und sie bietet eine unglaubliche Lebensqualität – rechts und links des Flusses. Die Limmat in der Mitte ist malerisch – wenn sie nicht als Trennlinie benutzt wird. Zum Glück gibt es ja genügend Brücken.
Kann man Labskaus essen? Man kann! Es erinnert an ein deftiges Kartoffelmus, mit Corned Beef und Randen. Es wird serviert mit Spiegelei und Gewürzgurke, und wer mag, kriegt noch einen Rollmops dazu – beim nächsten «Männerznacht» im Altstadthaus.

Joachim Buroh