Träumender Realist

Gottfried Keller – Der träumende Realist: Der Titel der Gedenkausstellung zum 200. Geburtstag von Gottfried Keller ist Programm. Es geht darin nicht so sehr um einen vollständigen Überblick über Kellers Leben und Werk; dieser Überblick wird nur mit der nüchternen, distanziert in der dritten Person Einzahl gehaltenen autobiographischen Notiz geboten, die der 70-jährige Dichter 1889 auf Wunsch der Gemeinnützigen Gesellschaft Neumünster verfasste, und beim Eingang der Ausstellung vom Schauspieler Gottfried Breitfuss vorgelesen wird.
Mit fünf Jahren verliert Keller seinen Vater. Den Schwierigkeiten der Kindheit und Jugendzeit in ärmlichen Verhältnissen versucht er schon früh in erträumten Fantasiewelten zu entkommen und sie mit kleinen Bühnenstücken zu verarbeiten. Die noch in späteren Jahren gehegte Absicht, im dramatischen Fach zu reüssieren, erfüllt sich ebenso wenig wie Kellers Traum, Maler zu werden. Immerhin beweisen die in der Ausstellung gezeigten Skizzenbücher und Landschaftsmalereien sein grosses Talent in diesem Fach. Das eindrückliche Ölgemälde der «Heroischen Landschaft», Kellers Hauptwerk, ist derzeit im Landesmuseum zu sehen. Schön nachzuvollziehen ist, wie der Landschaftsmaler in der Konfrontation mit einer antiken Skulptur beim Versuch, Menschen darzustellen, scheitert, sich von der Malerei abwendet und Schriftsteller wird. Dessen Werke werden anhand der ausnahmslos in Deutschland erschienenen Erstausgaben dokumentiert.
Originell gestaltet ist die Zusammenstellung von Porträts des Dichters, der die von befreundeten Malern geschaffenen Bildnisse stets den Fotografien vorzog, weil diese ihn nur abbilden würden, ohne sein wahres Wesen wiederzugeben.
Ein weiterer Raum ist den vielen unglücklich verlaufenen Liebesbeziehungen gewidmet, die ein Licht auf die Frauengestalten in Kellers Werk werfen. Liegebetten laden dazu ein, sich zu entspannen und die von 1846 bis 1848 notierten Träume Kellers auf sich wirken zu lassen; und seine Bedeutung als Märchenerzähler, wie ihn Theodor Fontane charakterisierte, erweist sich an einem Ausschnitt aus dem späten Roman «Martin Salander». Peter Bichsel, Julia Weber, Hildegard Keller und Peter von Matt geben in pointierten Statements ihre persönlichen Eindrücke zu Keller wieder. Und wenn von Matt die Novelle «Die drei gerechten Kammacher» als herrlichste Prosakomposition der deutschen Literatur bezeichnet und dazu meint: «Wer diese Geschichte blöd findet, sollte besser nur Zeitung lesen», so animiert das ungemein, Kellers Werke wieder einmal zur Hand zu nehmen.

Matthias Senn


«Gottfried Keller – Der träumende Realist», Ausstellung bis 26. Mai im Strauhof, Augustinergasse 9. Öffnungszeiten Dienstag bis Freitag 12 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 22 Uhr, Samstag und Sonntag 11 bis 17 Uhr. Öffentliche Führungen, Lesungen und Vorträge siehe www.strauhof.ch/veranstaltungen.