Reisen ist leben

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Vor dreizehn Jahren glaubte unsere Gastschreiberin Christina Senn-Jakobsen, eine Dänin, sie würde einige Jahre in der Schweiz verbringen, bevor sie in ein neues Land weiterreist. Heute ist sie immer noch hier, in derselben kleinen Wohnung, die sie damals im Niederdorf bezog, die sie sich aber inzwischen mit ihrem Schweizer Ehemann und einer siebenjährigen Tochter teilt.

«Reisen ist leben» sagte der dänische Märchenautor Hans Christian Andersen.
Im Alter von 23 Jahren unternahm ich meine erste grosse Reise – sieben Wochen in Ost-Afrika. Danach gab es kein Zurück mehr, ich wollte reisen, ich wollte leben.

Palau
Einer der einzigartigsten Orte, an denen ich gelebt habe, ist die Republik Palau in Mikronesien. Ich habe dort dreimal mehrere Monate gelebt und als Diveguide gearbeitet.
Palau ist eine Stammesgemeinschaft und hat bis heute eine matriarchalische Gesellschaft, deren Abstammung und Titel von der mütterlichen Seite vererbt wird.
Es ist die Mutter, die den Geldbeutel der Familie kontrolliert, und obwohl die Clan-Chefs Männer sind, haben die Frauen das Recht, dem Mann die Hauptposition zu entziehen, wenn er gegen den Wunsch der Frauen entscheidet.
Eine faszinierende Gesellschaft, von welcher wir uns etwas abschauen können.

Nächster Halt Zürich
Zehn Jahre und über fünfzig Länderbesuche später zog ich in eine Wohnung an der Münstergasse im Niederdorf ein. Ein Karriereschritt brachte mich nach Zürich, wo ich niemanden kannte. Ich hatte mich sofort ins Niederdorf verliebt. Ich erinnere mich, über den Zwingliplatz zu laufen und ein Gefühl von Urlaub zu haben, als ich im September 2007 eingezogen bin. Die Schweiz war das zwölfte Land, wo ich einen längeren Aufenthalt plante. Früher hatte ich als Forscherin in Sydney, als Handels-Assistentin auf der dänischen Botschaft in Tokio, als Schokoladeentwicklerin in Oslo und so weiter gelebt.
Ich wünschte mir, weitere Länder zu entdecken. Dies veränderte sich aber, als Patrick Senn in mein Leben eintrat. Ein bodenständiger Schweizer Mann, wie eine Eiche. Er war nicht wieder wegzujagen. So beschloss ich, etwas länger hierzubleiben als geplant.

Indien
So bodenständig war er dann doch nicht. Patrick war auch ein Abenteurer und gemeinsam gingen wir mit unseren Jobs für knapp ein Jahr nach Indien. Indien ist ein vielfältiges, aber verrücktes Land. Egal was man über Indien sagt, das Gegenteil ist genau so wahr. Zum Beispiel ist Indien eines der religiösesten Länder dieser Welt, ja, aber auch ein sehr korruptes Land. Indien hat sehr viele arme Leute, ja, aber auch extrem reiche Menschen. Es hat ein schlechtes Schulsystem, ja, aber dennoch trafen wir einige der klügsten und am besten ausgebildeten Menschen, die wir je getroffen haben. In der indischen Küche dreht sich alles um Currys. Nun ja, es ist das komplexeste und vielfältigste Angebot, das man sich vorstellen kann – von Nord bis Süd, von Ost bis West!
Wir lieben Indien. Es gab uns das Gefühl, lebendig zu sein – jeden Tag. Patrick pflegte jeden Morgen zu sagen: «Erwarte das Unerwartete!» Und tatsächlich waren wir täglich erstaunt und überrascht. Ich glaube, ich könnte ein ganzes Buch über unsere Zeit in Indien schreiben. Wir lieben dieses Land und seine Menschen. Wir konnten von ihnen viel über Dankbarkeit und Zufriedenheit lernen.

Die Weltreise
Bei unserer Rückkehr in die Schweiz war ich im fünften Monat schwanger. Nach zwei Jahren im Nest im Niederdorf, das war 2015, beschloss die kleine dreiköpfige Familie, ihre Rucksäcke zu packen und eine Weltreise von Kolumbien über die Südsee nach Australien, in die Philippinen und nach Japan zu unternehmen. Eine sechsmonatige Reise – mit einer zwei Jahre alten Miss Clara Ocean.
Mit einem Kind zu reisen öffnet ein neues Universum. Wir erlebten eine Gastfreundschaft, die wir nicht erfahren hätten, wenn wir nur zu zweit gewesen wären. Besonders in Südamerika und in den asiatischen Ländern werden Kinder verehrt. Für mich war Kolumbien der Höhepunkt der Reise. Ein so naturreiches Land, extrem vielfältig, mit üppigen Kaffeehügeln, unendlicher Wüste, rauem Ozean, modernen Städten und einem erstaunlichen Regenwald. Die Menschen sind unvorstellbar gastfreundlich, und ich liebe einfach die Art und Weise, wie die Frauen mit Stolz und hoch erhobenem Haupt gehen und alles Weibliche an sich selbst feiern, ohne ihre Würde zu verlieren – im Gegenteil.

Zurück in Zürich
Nach der Weltreise war es Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Ehe wir uns versahen, begann Clara mit dem Kindergarten und seit diesem Jahr ist sie in der ersten Klasse.
Eines der vielen coolen Dinge am Leben im Niederdorf ist, dass es immer etwas Neues zu entdecken gibt. Die Trittliwiese eröffnete eine neue Welt für uns. Erst letztes Jahr habe ich den Grossmünster-Klostergarten gefunden. Und es gibt immer noch Gassen, Läden, Cafés, Ecken und Geschichten, die wir noch erkunden müssen.
Werden wir wieder reisen? Wir hoffen es sehr! Im Moment geniessen wir unsere Abenteuer in Zürich und der Schweiz. – Bevor wir Clara bekommen haben, hatte ich keine Ahnung, dass im Niederdorf Kinder leben. Heute kennen wir hier so viele wunderbare und inspirierende Familien. Wir nennen sie alle «unkompliziert», was so ziemlich das grösste Kompliment ist, welches wir machen.
Inzwischen bin ich eingebürgert und gehe gerne wählen. Ich liebe das einzigartige System, welches einem erlaubt, zu den unterschiedlichen Themen Stellung zu nehmen.
Sowohl Dänemark als auch die Schweiz sind kleine Länder in Europa. Unsere Flaggen sind sich sehr ähnlich. Beide Kulturen vertreten Werte der gegenseitigen Fürsorge, Loyalität und Ehrlichkeit. Mein dänischer Humor, geprägt von Ironie und Sarkasmus, bringt mich immer mal wieder in Schwierigkeiten, selbst nach dreizehn Jahren. – Mein Mann hat gelernt damit umzugehen.

Unsere Gastschreiberin
Christina Senn-Jakobsen (geb. 1974) stammt aus Dänemark. Sie absolvierte ein Masterstudium zur Lebensmittelingenieurin in Kopenhagen.
Reisen war ihr immer wichtig. So studierte sie ein Jahr in Sydney und liess nach einem Zwischenjahr, das sie in Palau und in Tokio verbrachte, ein Masterstudium in Food Studies folgen. Dieses Projekt führte sie in fünf europäische Länder. Danach arbeitete sie zwölf Jahre für Kraft Food in der Entwicklung von Schokoladeprodukten, in München, dann in Zürich, als Chocolate Innovation Manager Europe. – Seit 2007 lebt sie in Zürich, in der Altstadt. Mit ihrem Mann Patrick war sie 2012 ein Jahr in Indien – womit sie bisher in dreizehn Ländern gelebt hat. Seit 2013 begleitet sie Startups. Sie ist im Vorstand des Elternvereins Altstadt. Ihre Tochter Clara Ocean ist sieben Jahre alt.    

Foto: EM