Ein «Dorf»-Arzt tritt zurück

Vierzehn allesamt heilige Nothelfer kann die geplagte Menschheit anrufen, seit Jahrhunderten, rund um die Uhr und eben in Notfällen, wie es der Name besagt. Ein moderner Nothelfer – insbesondere für die Altstadt – war der Arzt Andreas Roose (1946), der dieser Tage seinen Beruf an den Nagel hängt. Heilig oder nicht, er wird fehlen.

Einige wenigstens wollen wir in Erinnerung rufen, ein kleiner kirchenhistorischer Exkurs sei gestattet: Gegen Fieber, Pest, schlechtes Wetter und Versuchungen aller Art hilft Georg. Katharina ist zuständig für Jung- und Ehefrauen, Stotterer, Gelehrte und diverse Handwerksberufe. Eustachius ist ein Troubleshooter in Trauerfällen und ein Schutzheiliger der Jäger. Barbara ist die Patronin der Bergleute, der Artillerie, der Feuerwerker und der Architekten, Christophorus coacht Automobilisten, Bogenschützen und Gemüsehändler. Das Ressort des Pantaleon sind Ärzte und das medizinische Personal. Zu Lebzeiten bis zu seinem Märtyrertod kurierte er den römischen Kaiser Maximian (um 249-310).
Ein moderner Nothelfer, mit Leib und Seele, das ist/war dieser Andreas Roose, ein Allgemeinmediziner FMH, ein Hausarzt wie im Bilderbuch, zuständig für alle Wehwehchen und auch für Katastrophen.
Gekrönte Häupter hat er unseres Wissens keine verarztet und auch «keine Pelzmäntel», wie er maliziös rekapituliert – das Arztgeheimnis verpflichtet lebenslänglich! Die Praxis an der Zähringerstrasse gibt er auf, die Mandate als Heimarzt für die Herberge zur Heimat an der Geigergasse und für die städtischen Altersheime Bürgerasyl und Pfrundhaus lässt er Ende September auslaufen. «Uusplampe» liegt ihm nicht.

Abschied mit Emotionen
Von seiner medizinischen Bibliothek hat er sich getrennt. Endgültig, versichert er. Schwerer, unendlich viel schwerer fällt ihm der Abschied von Patientinnen und Patienten, die er seit so vielen Jahren betreute. Die meisten lernte er gründlich kennen, manche wurden auch Freunde. Roose kennt mindestens die Hälfte der schiefen Treppenhäuser in den (noch nicht ausgekernten) Altstadthäusern rechts der Limmat, weiss, wie sie knarren und quietschen und riechen und praktisch alle sind sie ohne Lift.
Schon der junge Andreas Roose, in Rio als Auslandschweizer zur Welt gekommen und am Zürichberg aufgewachsen, fühlte sich in der Altstadt immer schon wohl und zu Hause. Im Huttenschulhaus ging er zur Schule. In der Pestalozzibibliothek konnte er die geliebten Indianerbücher ausleihen. Bei Zangger an der Zürichbergstrasse gab es noch die feinen Brötli mit Salz und Kümmel – die Bäckerei gibt es leider nicht mehr.

31 Jahre an der Zähringerstrasse
Als Allgemeinmediziner und Hausarzt begann er im April 1981 in einer Gruppenpraxis beim Grossmünster. Leider stimmte die Chemie nicht, Roose stieg bald wieder aus und konnte an der Zähringerstrasse 32 die verwaiste Praxis eines Rheumatologen übernehmen.
Der Anfang, das erste halbe Jahr sei harzig gewesen, erinnert sich der «Herr Doktor», dem man sein Alter nicht gibt, mobil – auch als versierter Töfffahrer – und flexibel wie er ist. Zweimal pro Monat leistete er deshalb Notfalldienst. Lange Jahre arbeitete er auch im Vorstand der Spitex Altstadt. Tage- und nächtelang war er «im Dorf» unterwegs, auf Hausbesuch und notfallmässig. Häufig mit dabei war auch die engagierte ehemalige Gemeindekrankenschwester Züsi Henne.

Gestorben wird betreuter
Früher seien die Leute anders gestorben, sinniert der Arzt, der sich selber pensioniert hat. Jene alleinstehende ältere Frau, die in ihrem Sessel starb und nach hinten kippte – er erinnert sich noch heute. Ein unbehüteteres Sterben sei es damals oft gewesen. Heute sterbe man – meistens wenigstens – betreuter.
Was tut ein Arzt, der keiner mehr sein will? Einen Einsatz bei einem medizinischen Hilfsprojekt in Laos schliesst er nicht aus. Aber vor allem will er künftig lesen, lesen, lesen, nicht nur in knappen freien Stunden wie bisher. Literatur, und zwar integral. Er liest Autoren am liebsten von A bis Z. Frisch ist derzeit sein «Sparring-Partner». Vorher beschäftigten ihn Celan, Ingeborg Bachmann, Robert Walser, Uwe Johnson…
Auch um seine Musik will er sich endlich intensiver kümmern, er spielt seit 1956 Klavier. Einmal im Monat jazzt er zusammen mit vier Kollegen. Sie treffen sich jeweils privat bei ihm zu Hause, zuerst wird gegessen, dann musiziert. Und meis-
tens heisse es am Schluss: «So schön haben wir überhaupt noch nie gespielt!»
Roose lacht. Guten Mutes ist er auch, weil er den richtigen Nachfolger gefunden hat. Nicht nur, weil er heisst wie er. Andreas Vögele heisst er. Aber für praktizierende Ärzte darf man bekanntlich keine Werbung machen, damit würde man gegen
die Standesregeln verstossen.

Esther Scheidegger