Der Leonardo da Vinci der Schweiz

Am 16. März jährt sich Conrad Gessners Geburtstag zum 500. Mal, Anlass genug für viele Zürcher Institutionen, mit den verschiedens­ten Projekten während des ganzen Jahres an einen der bedeutendsten, auch über die Grenzen der Stadt hinaus berühmten Mitbürger zu ­erinnern.

Von Gessners Name ist heute nicht mehr ­vielen bekannt, und der wohl beste Kenner seiner Person und seines Werks, Urs Leu, Leiter der Abteilung Alte Dru­cke an der Zentralbibliothek Zürich, äusserte unlängst in einem Referat besorgt: «Heute droht Konrad Gessner, der Leonardo da Vinci der Schweiz, in Vergessenheit zu geraten.» Dies, obwohl sein Porträt während Jahren auf der früheren Schweizer 50-Franken-­Note abgebildet war und in der Stadt ein Standbild über dem Eingangsportal der Zentralbibliothek, die Bronzebüste im alten botanischen Garten beim Völkerkundemuseum und eine Gedenktafel an der Frankengasse, wo er von 1550 bis zu seinem Tod wohnte, an den Universalgelehrten erinnern.

Begabt und gefördert
Der internationale Ruhm war Gessner freilich nicht in die Wiege gelegt. In ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Kürschners geboren, interessiert er sich schon früh für die Botanik. Dank der Fürsorge eines Onkels kann Gessner die Fraumünsterschule besuchen, wo er in den klassischen Sprachen unterrichtet wird. Dank seiner Aufgewecktheit wird er von den massgebenden Lehrern in Zürich gefördert und kann seine Ausbildung an der Höheren Schule im Grossmünsterstift fortsetzen, trotz ständiger finanzieller Nöte. Diese verschärfen sich noch, als Gessners Vater in der Schlacht bei Kappel am 1. Oktober 1531 ums Leben kommt. Gessners Lehrer Oswald Myconius hilft dem 16-Jährigen weiter und vermittelt ihm einen Studienplatz in Strassburg.
Wichtig für seinen weiteren Werdegang ist auch die Unterstützung durch Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger an der Spitze der Zürcher Kirche, mit dem Gessner zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden bleibt. Ein Stipendium ermöglicht ihm und seinem Altersgenossen Johannes Fries 1533 einen Aufenthalt an der Universität in Bourges, wo aber vor allem Rechtswissenschaft gelehrt wird, ein Fach, das die beiden Zürcher wenig interessiert. Deshalb ziehen sie weiter nach Paris und geniessen dort ein breites Angebot von Studienfächern. Gessner erinnert sich begeistert an diese Zeit, in der er scheinbar wahllos die Werke der verschie­densten Schriftsteller verschlingt, griechische und lateinische Bücher von dichterisch-literarischem, historischem, philologischem Inhalt ebenso wie Schriften zu Medizin, Dialektik oder Rhetorik. Mit dieser weitläufigen Lektüre schafft sich Gessner die Grundlagen für seine späteren wissenschaftlichen Aktivitäten. In Paris erleben die Zürcher Studenten die ersten Verfolgungen von Anhängern des protestan­tischen Glaubens, was Gessner veranlasst, seine Studien in Strassburg fortzusetzen, auch hier wieder unter der Protektion von Freunden Zwinglis und Bullingers. Erfolglos sucht er dort nach einer Stelle und sieht sich 1535 gezwungen, nach Zürich zurückzukehren. Trotz ständiger finanzieller Sorgen heiratet er, zum Ärger seiner Umgebung, mit 19 Jahren eine schöne, aber mittellose junge Frau, was sein Fortkommen nicht erleichtert. Vorläufig muss er sich mit einer schlecht bezahlten Lehrerstelle in der Elementarschule begnügen, erhält dann aber nochmals ein Stipendium, das ihm weiterführende Studien in aristotelischer Philosophie und Naturwissenschaft in Basel erlaubt.

Philologie, Zoologie, Medizin…
Die Mitarbeit bei der Herausgabe eines griechisch-lateinischen Lexikons, das vom bekannten Basler Drucker Heinrich Petri publiziert wird, macht Gessner als soliden Philologen bekannt, so dass er 1537 als Professor für Griechisch an die Akademie in Lausanne berufen wird, wo er bis 1540 bleibt. Endlich in angesehener, materiell gut abgesicherter Stellung, kann er sich nun neben dem Lehrauftrag seinen speziellen Interessen widmen; mit der Publikation der ersten pflanzenkundlichen Handbücher beginnt seine Karriere als Naturwissenschaftler: Auf die alphabetisch angeordnete «Historia plantarum», 1541 in Basel gedruckt, folgt im Jahr darauf der von Froschauer in Zürich gedruckte «Catalogus plantarum», ein Verzeichnis der Namen aller bekannten Pflanzen in griechischer, lateinischer, deutscher und französischer Sprache. Unermüdlich bildet sich Gessner weiter. Nach dem Verlassen der ­Lausanner Akademie setzt er sein Medizinstudium in Montpellier fort, das er schliesslich in Basel mit dem Doktor­titel abschliesst. Die Resultate weiterer Forschungen werden in wissenschaftlichen Werken publiziert. Bei Wanderungen in den Bergen macht sich Gessner über Milch und Milchwirtschaft kundig; wiederholte Reisen führen ihn ins Ausland, wo er Bibliotheken und Sammlungen besucht und seine philologischen und zoologischen Kenntnisse erweitert.
Ein herausragendes Zeugnis der von Gessner entwickelten Methodik, seiner systematischen Gründlichkeit und seines umfassenden Wissens ist die 1545 veröffentlichte «Bibliotheca universalis»: Das wiederum bei Froschauer gedruckte Werk erschliesst die Titel von rund 12 000 Büchern von über 5000 ­Autoren aus allen damals bekannten Wissensgebieten, verfasst auf Lateinisch, Griechisch und Hebräisch. Mit diesem Riesenunternehmen, der methodischen Grundlage für viele spätere bibliographische Publikationen, wird Gessner schlagartig berühmt.
1554 erhält er die seit langem erstrebte Anstellung als Stadtarzt von Zürich, ­eine in Zeiten wiederholter Pestepidemien anspruchsvolle Aufgabe, die ihn aber nicht vom Verfassen weiterer Bücher abhält.

Zoologisches Kompendium
Neben seiner bibliographischen Leis­tung wird Gessner vor allem durch die vier Bände der «Historia animalium», seines zoologischen Hauptwerks, weit herum bekannt. Der damals gängigen Einteilung der Tierwelt folgend, beschreibt er darin die lebendgebärenden und eierlegenden Vierfüssler, die Vögel und die Wassertiere. Die Darstellungen der einheimischen Tiere basieren meist auf selbst gemachten Beobachtungen; zudem wertet Gessner für seine Texte die zoologischen Werke antiker und mittelalterlicher Autoren aus. Besonders interessieren ihn die fremden Tiere aus den fernen Ländern der neu entdeckten Kontinente – Ameisenbär, Gürteltier, Affen, Papageien etwa –, deren Beschreibung er den Reiseberichten der Seefahrer entnimmt. Viele teils bekannte, teils unbekannte Künstler haben die Bildvorlagen für die zahlreichen Holzschnitte beigesteuert, mit denen die beschreibenden Texte illus­triert sind. Manche Bilder stammen auch von Gessners eigener Hand, ist er doch selbst ein begabter Zeichner. Auch wenn Gessner vom Grundsatz ausgeht, dass alles, was er schreibt, stimmen muss, nimmt er doch auch kuriose Fabeltiere in seine Bücher auf: So schildert er zum Beispiel ausführlich das ­sagenumwobene, von niemandem je ­gesehene Einhorn oder ein 1523 in Rom erblicktes «Meerfräulein» (siehe Abbildung).
Dem umfassenden Tierkompendium sollte ein ähnlich vollständiges bota­nisches Werk folgen. Dafür sammelt Gessner zahlreiche Notizen und Abbildungen und erstellt selbst ganze Serien von Pflanzenzeichnungen, die in ihrer Genauigkeit und künstlerischen Qualität zu den eindrücklichsten naturwissenschaftlichen Bilddokumenten seiner Zeit gehören. Gessner kann das reichhaltige Material aber nicht mehr verarbeiten. Er stirbt am 13. Dezember 1565 im Alter von 49 Jahren an der Pest.

Zahlreiche Veranstaltungen
Die in wenigen Jahren entstandene weitgefächerte Hinterlassenschaft des Universalgelehrten ist nun im Gedenkjahr Gegenstand zahlreicher Veran­staltungen. Am 16. März, dem Tag des 500. Geburtstags, eröffnen Ausstellungen im Landesmuseum und im Zoolo­gischen Museum der Universität. Im ­Zoologischen Garten wird Gessner mit Informationstafeln an verschiedenen Standorten als «erster moderner Mensch und Vater der Zoologie» ge­würdigt. Die umfangreiche Begleit­publikation zu den Ausstellungen, ­«Facetten eines Universums», widerspiegelt die Themenvielfalt von Gessners Schaffen. Urs Leu steuert eine auf neusten Erkenntnissen basierende Biographie bei, die auch als Grundlage für einen Film über Gessners Leben dient. Ein internationaler Kongress an der Uni wird die interdisziplinären Interessen und Werke Gessners beleuchten. Wei­tere Aktivitäten, Führungen, Vorträge sind auch an anderen Orten während des ganzen Jahres geplant. Darüber informiert die Internet-Seite www.gessner500.ch.
All diese Anlässe werden dazu beitragen, Conrad Gessner, den Leonardo da Vinci der Schweiz, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Matthias Senn