«Love, Play, Fight»

Hayat Erdogan, Tine Milz und Julia Reichert haben die künstlerische Leitung des Theaters Neumarkt
übernommen. Was sind ihre Pläne, wie gehen sie die neue Aufgabe an? – Der Altstadt Kurier hat
sich mit ihnen unterhalten.

Sie haben die Leitung des Theaters Neumarkt übernommen und stehen am Saisonstart. Wie fühlt sich
das an?
Hayat Erdogan: Wir haben uns schon viel vorgenommen.
Tine Milz: Bereits im Dezember 2017 ist die Ernennung erfolgt.
Julia Reichert: Wir sind froh, dass es Form annimmt. Am Theater Spektakel haben wir ja schon
etwas gezeigt, einen Tanz-Marathon. Die Resonanz zwischen Publikum und den Beteiligten, das hat
gut getan.
Tine Milz: Es macht Spass, wieder Theater zu machen und nicht nur in einer Denkblase zu sitzen.

Wie ist es zu dieser Dreier-Konstellation, zu dieser Dreipersonen-Leitung gekommen?
Julia Reichert: Hayat und ich kennen uns seit 2010, später lud sie mich ein, an der Zürcher
Hochschule der Künste ZHdK mit ihr Seminare abzuhalten. Hayat und Tine haben sich ebenfalls an
der ZHdK kennengelernt, Tine und ich haben auch eine gemeinsame Verbindung an die Münchner
Kammerspiele. Von Tine stammt die Idee, sich zu bewerben: Alles begann mit einer WhatsApp. – Eine
Verbindung zu Zürich haben wir alle drei.

Wie teilen Sie sich in die Aufgaben, haben Sie Ressorts oder machen alle alles? Und wie ist es
mit den Stellenprozenten?
Hayat Erdogan: Wir haben ja die Doppelfunktion künstlerische Leitung oder Direktion, wie man das
hier nennt, machen aber alle drei auch Dramaturgien, das heisst wir initiieren, entwickeln und
begleiten die Produktionen im Haus. Die Direktion gliedern wir neben der gemeinsamen
Hauptaufgabe, nämlich Programm machen, in drei Ressorts: Julia ist zuständig für Personelles und
Betrieb, die Innenministerin, wie wir das genannt haben. Mich nennen die beiden
Propagandaministerin, zuständig für den Diskurs, sogenannten Überbau, Kommunikation. Und Tine
macht die Aussenpolitik: Kooperationen initiieren, vernetzen mit anderen Partnern in Zürich. Auch
das Sponsoring fällt hier rein. – Stellenprozente haben wir je 100, dazu kommt eine 80-Prozent-
Stelle in der Dramaturgie. Davor waren es 200 Prozent für die Direktion und 200 für die
Dramaturgie.

Wie setzt sich das Ensemble zusammen, woher stammen die Schauspielerinnen und Schauspieler?
Hayat Erdogan: Das sind sieben Personen, die fast alle schon länger oder schon immer in der
Schweiz leben und einen Bezug haben zu Zürich. Neu ist, dass das darstellende Künstlerinnen und
Künstler, also nicht alle klassische Schauspieler sind. Sie kommen vom Tanz, von der Musik her.
Speziell ist, dass wir ein weiteres Mitglied für unsere Eröffnungsproduktion am Tanz-Marathon
erkoren haben. Nach fünf Stunden Tanzen waren noch unsere Ensemble-Mitglieder auf den Beinen,
alle anderen hatten aufgegeben. Bis auf eine weitere Person. Die spielt jetzt auch bei der ersten
Produktion mit.

Wie sind Sie auf Zürich, auf das Theater Neumarkt gekommen?
Julia Reichert: Wir waren ja schon lange hier. Ich selbst bin 2011 nach Zürich gekommen, als
Dramaturgin am Theater Neumarkt übrigens.
Hayat Erdogan: Ich kam 2010 an die ZHdK, als Dozentin für Dramaturgie und Theorie.
Tine Milz: Ich kam 2015 an die ZHdK, als Studentin.

Welche Bedeutung hat für Sie der Bezug zur Stadt Zürich, zur Altstadt, zum Quartier?
Hayat Erdogan: Eine extrem grosse. Das Theater Neumarkt ist ja keine Kulturinstitution, die ohne
Bezug zur Stadt existieren könnte. Es schreit danach, sich zu vernetzen mit der Stadt. Wir
versuchen das mit unserem ersten Spielplan, indem wir rausgehen, verschiedene Zielpublika
ansprechen, herausfinden, mit wem wir kollaborieren wollen. Wir wollen rausgehen an Orte
ausserhalb des Hauses. Dazu ist es gut, die Stadt zu kennen. Dieses Haus interessiert uns, es ist
klein, man ist beweglich.

Bis anhin wurde der Direktion eine städtische Wohnung gleich im Nachbarhaus angeboten. Die ist
nun anderweitig vermietet. Ist der Verzicht auf diese Nähe zum Arbeitsort Vor- oder Nachteil?
Julia Reichert: Schade um die schöne Wohnung mit dem denkmalgeschützten Ofen im Wohnzimmer.
Vielleicht fehlt uns so etwas der Kontakt zur Nachbarschaft. Andererseits ist es gut, mal aus der
Blase rauszugehen, in der man ist.
Hayat Erdogan: Für mich ist es ein Vorteil. Wobei bereits die Werdinsel – wo unsere Werkstätten
und Probenräume sind – ja schon ein anderer Ort ist, fast wie ein Dorf. Ein Dorf, das jetzt
kleiner und kleiner wird, wenn die Badesaison zu Ende ist.
Tine Milz: Es tut auch mal ganz gut, wegzugehen. Der Vorteil vom Weggehen: Die Freude, wieder
zurück ins Niederdorf zu kommen. Es ist ein wirklich spezieller Ort.

Wie positionieren Sie sich zwischen dem Schauspielhaus und dem Theaterhaus Gessnerallee?
Julia Reichert: So in der Mitte?
Hayat Erdogan: So etwas links der Mitte?
Julia Reichert: Das Schauspielhaus hat den Pfauen, den Schiffbau, hat mehr Geld. Wir sind in
einem Zunfthaus im 2. Stock.
Hayat Erdogan: Und wir haben den schöneren Kubus! (Angesprochen ist das Aktionstheater in einem
gläsernen Kubus vom 6. bis 10. September in der Bahnhofshalle. Anm. der Red.)
Julia Reichert: Die Gessnerallee hat ja kein eigenes Ensemble, ist so gesehen schwer
vergleichbar. Am Neumarkt ist man nah dran, entsteht ein intimeres Miteinander. Es ist
familiärer, weniger Musentempel als der Pfauen.

Ihr Motto lautet «Love, Play, Fight». Wie setzen Sie das um?
Hayat Erdogan: Das ist unser Motto, unser Glaubensbekenntnis, es ist Schlachtruf, Aufforderung,
eine Einladung. Das beziehen wir auch auf uns selbst: Es geht uns darum, wie wir gut miteinander
arbeiten wollen, Entscheide treffen wollen. – Love ist Hingabe, Überzeugung, sich verschreiben.
Play meint das Bekenntnis zum Spiel, anders miteinander ins Spiel kommen. Meint auch eine
institutionelle Selbstbefragung. – Fight: Gut miteinander streiten können. Unterschiedliche
Positionen haben können, politische, künstlerische.
Tine Milz: Wofür es sich zu kämpfen lohnt. Zu seiner Meinung stehen. Warum wollen wir überhaupt
etwas sagen, für etwas einstehen und Sprachrohr sein.
Hayat Erdogan: Das Motto ist ernst gemeint, wenn es auch naiv oder plakativ daherkommen mag. Es
soll auch niederschwellig sein in der Kommunikation.
Tine Milz: Diese drei Begriffe gehören auch unzertrennlich zusammen.  Julia Reichert: Je länger
man es anguckt, umso tiefer geht es. Liebe – Valentinstag? Ein plattes Bild, das tiefer gründet.
Die drei Begriffe drücken verschiedene Arten des In-Beziehung-Tretens aus. Es geht darum,
wirklich ins Gespräch oder Spiel zu kommen. Wir wollen ein nahbarer Ort sein, wo man nicht nur
hingeht, um das Programm zu konsumieren. Auch streiten gehört dazu.

Sie unterscheiden die Bereiche Playground, Theater, Akademie: Was steht dahinter?
Hayat Erdogan: Das ist ein Spiel, mit den Sparten: Ein «Dreispartenhaus» – bei dieser Grösse!
Julia Reichert: Da stellt man sich ja eigentlich ein Orchester dazu vor und ein zwanzigköpfiges
Tanz-Ensemble… In der Theatersparte zeigen wir Stücke, Projekte, freie Adaptionen. Playground
meint ein offenes Feld.
Tine Milz: Beispiel dafür ist die freie Performance im Kubus in der Bahnhofshalle.
Hayat Erdogan: Akademie ist nicht gemeint im Sinn von Schule oder Uni. Es geht um Formate,
Formen, sinnlich erfahrbar. Theoretische, philosophische Fragen beschäftigen uns in Konferenzen,
Gesprächsreihen, Lesegruppen. Dazu laden wir interessante Gäste ein, unter Einbezug des Ensembles
und des Publikums. Zum Beispiel gibt es am 21. September im Rahmen des Open House die erste Folge
der «Akademie zur Verarbeitung der Enttäuschungen der Vernunft».

Was wird neu, anders mit Ihrer Intendanz? Vielleicht auch anhand des Programms gesagt?
Julia Reichert: Es gibt ein neues Ensemble, und wir haben Sparten. Und wir spielen Stücke im
Block, nicht verteilt über eine längere Phase.
Tine Milz: Im Dezember spielen wir zum Beispiel ein Stück für Kinder «Kids of No Nation», das der
Zürcher Filmregisseur Dominik Locher geschrieben hat. Nellie Hächler, ein sechzehnjähriges
Mädchen, spielt eine der Hauptrollen. – In unserer kleinen Nebenspielstätte an der Chorgasse 5
ziehen jeweils für drei Monate Künstler ein. Die erste Residenz ist ein «Parlament der Dinge,
Pflanzen, Tiere und Algorithmen». Seraina Dür und Jonas Gillmann sind dort mit vier Stadttauben
eingezogen. Jeweils am Dienstag kann man sie dort besuchen. – Wir wollen hier am Neumarkt
Experimente umsetzen. Vier Jahre lang. Vielleicht mit Verlängerung.
Julia Reichert: Es geht uns um eine Vielheit: Romanvorlagen, Stückaufträge, szenische
Konferenzen, freie Projekte. Einmal im Jahr machen wir eine internationale Koproduktion. Und
einmal im Jahr tut das ganze Haus so als ob und verwandelt sich
in etwas anderes: Mimikry heisst das Format.
Tine Milz: So wird im Februar das Neumarkt zur Wellness-Stätte, mit einer Sauna im Saal.

Ein letztes Wort noch, ein Wort zum Schluss?
Tine Milz: Wir freuen uns, wenn alle vorbeikommen. Ausserdem machen wir auch Hausbesuche: Auf
Einladung kommen wir vorbei und erzählen von unseren Vorhaben, unseren Visionen und von unserem
Theater. Es geht uns um das persönliche Kennenlernen und den gemeinsamen Austausch. Wir nehmen
auch bei uns im Neumarkt die Rolle der Gastgeberschaft sehr ernst.
Julia Reichert: Wir möchten alle herzlich einladen zu unserm Open House vom Samstag, 21.
September, von 16 bis 20 Uhr. Es gibt Apéro, eine Akademie und ein Konzert.
Hayat Erdogan: Wir freuen uns, wenn alle kommen.

Interview: Elmar Melliger