Der Welt mit Misstrauen begegnen

Reto Müller, Pfarrer der katholischen Kirchgemeinde Liebfrauen, hat für den Altstadt Kurier den traditionellen Weihnachtsbeitrag verfasst.

In den letzten Jahren stelle ich unter Christen die Tendenz fest, der Welt mit Misstrauen zu begegnen, Abstand zu nehmen von «weltlichen Vergnügungen» und einem säkularen Umfeld.
Zum Beispiel wird eine bestimmte Musik gemieden, wird man gar aufgefordert, Platten zu vernichten, weil die Rhythmen und Worte uns negativ beeinflussen. Oder Männer bekennen, dass der Anblick junger Mädchen ihnen Freude bereite und in ihnen eine Begehrlichkeit wecke, und sie versuchen, alle Gedanken abzuwehren und zu verdrängen. Menschen sind der Überzeugung, sie müssten natürliche Interessen und Neigungen verleugnen und Gott im Gebet, in der Stille, in möglichst vielen Andachtsübungen suchen – nur das gefalle ihm.
Abgesehen davon, dass ich oft feststelle, dass solche Verdrängungen die Menschen aggressiv machen, irgendwie falsch, unecht: höflich, ja zuckersüss, aber mit einem versteckten Groll und Gift im Herzen (was allein schon Beweis wäre für das Ungesunde und Falsche einer solchen Haltung) – abgesehen davon denke ich, dass es grundlegend falsch ist, die Welt von Gott zu trennen. Gott hat die Welt erschaffen, gewollt und so geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hingegeben hat (Joh 316).

Gedanken, nicht erst Taten
Wenn Gott Mensch wurde und nichts Menschliches ihm fremd ist, wieso tadelt er dann schon die Gedanken, nicht erst die Taten als mörderisch oder ehebrecherisch, wieso hält er uns so radikal unser Ungenügen vor Augen und demaskiert unsere Unfähigkeit, je selbstlos zu werden?
«Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage Euch: Wer eine Frau nur schon lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen» (Mt 527f).
«Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten. Ich aber sage Euch: Jeder der seinen Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein. Wer aber zu ihm sagt: Du gottloser Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein» (Mt 521f).

Verständnis und Vergebung
Wieso demaskiert Gott so unbarmherzig unser Ungenügen? Damit
wir barmherzig sind.
Jesus sagt doch: Gerade weil ihr selber erfährt, dass ihr im Herzen und in Gedanken Mörder und Ehebrecher seid, sollt ihr barmherzig sein mit denen, die es tatsächlich geworden sind.
Ihr spürt ja die Versuchung, jemanden zu begehren oder jemanden zum Teufel zu schicken, fast täglich; und heuchlerisch, unbarmherzig verurteilt ihr die, welche nicht so stark sind und der Versuchung erliegen. Warum bemängelt ihr den Splitter im Auge der anderen, und den Balken im eigenen Auge nehmt ihr nicht wahr? Ihr seid nicht besser, ihr hattet es vielleicht besser und seid stark geworden im Widerstand gegen Versuchungen, aber das ist nicht euer Verdienst. Wenn ihr schon einseht, dass euch bloss der Mut zum Ehebruch fehlt und bloss der Zorn zum Mord, dann seid nachsichtig mit denen, die diese Schranken nicht haben. In Gedanken Ehebruch oder Mord zu begehen, unterscheidet sich ja nur graduell von der Tat selber, aber nicht in der Absicht, nicht im Kern.
Die entlarvenden Worte Jesu (Mt 517-28) sind also nicht eine Verurteilung, sondern ein Aufruf zum Verständnis und zur Vergebung. Er spricht so radikal, um unsere Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit zu erschüttern.

Hab keine Angst
Die Welt lieben heisst das Menschliche lieben. «Machs wie Gott: werde Mensch», lautete ein salopper Weihnachtsslogan vor ein paar Jahren. Ich glaube nicht, dass es gefährlich ist, bestimmte Musik zu hören, denn sie wirkt nicht magisch und automatisch persönlichkeitsverändernd. Ich vermeide sie auch, weil es mir nicht gut tut, weil mich der Rhythmus und das Geschrei krank machen, aber letztlich steuern mich Wille und Vernunft. Und selbst wenn sich der Satan persönlich solcher Mittel bedient, wie einige warnen, ist und bleibt er dem lieben Gott unterstellt, er ist ihm nicht ebenbürtig. Gott ist Mensch geworden, der Satan nur als Rosemary’s Baby, nur als Fiktion und Dichtung, als Nervenkitzel und als Möglichkeit, die in der Grundangst des Menschen wohnt. Darum lautet das von den Gottesboten verwendete Wort meist «Fürchte dich nicht», wenn sie einem Menschen begegnen. Es soll in dieser und ähnlicher Form 365-mal in der Bibel vorkommen: für jeden Tag des Jahres ein Aufruf zur Furchtlosigkeit. Hab keine Angst vor dem Leben, vor der Welt, vor Gott – der ist ja so klein und bescheiden, dass er sich im Menschen verbirgt; er hält nicht daran fest, Gott zu sein, sondern wird ein Mensch (Phil 26f).

Reto Müller