«Es war eine spannende Zeit»

Daniel Lienhard hat als Präsident der Kirchgemeinde zu Predigern vieles bewegt, hat Erneuerungen initiiert und vorangetrieben. Mit ihm verliert die Kirche einen engagierten, innovativen Präsidenten. Der Altstadt Kurier hat sich mit ihm unterhalten.

Daniel Lienhard, Sie treten nach zwanzigjährigem Engagement als Kirchgemeindepräsident zurück. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf, wie fühlen Sie sich?
Es sind gemischte Gefühle. Dem Verwaltungs- und Papierkram trauere ich nicht so nach, da bin ich froh um die Entlastung. Was mir fehlen wird, sind die Leute. Und die Möglichkeit, etwas mitentscheiden zu können, etwa in der Ökumene einen Schritt weiterzumachen. Etwas anreissen: das habe ich gerne gemacht.

Vor genau zwanzig Jahren sind Sie gewählt worden, als junger Mann. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich wohnte im Haus zum Palmbaum am Rindermarkt 14, das der Kirchgemeinde gehört. Da habe ich schon mit einer Anfrage für ein Mitwirken in der Gemeinde gerechnet. Tatsächlich gelangte Sylvia Rüdin an mich, die Frau meines Vor-Vorgängers Ernst Rüdin. So wurde ich mit dreissig in die Kirchenpflege gewählt und mit sechsunddreissig Nachfolger von Hansruedi Tobler als Präsident. Ich war damals unter den Präsidenten ein totales Greenhorn, weitaus der jüngste.

Noch so jung: Weshalb treten Sie zurück?
Ganz einfach, weil in der Kirche das Territorialprinzip herrscht. Nur wer hier wohnt und die Papiere hier hat, kann dieses Amt ausüben. Das ist wie in einer politischen Gemeinde. Zieht man weg, darf man noch die vierjährige Amtszeit beenden, dann ist es fertig. Das ist bei mir der Fall. – Vielleicht ist es auch gut, wenn eine Änderung durch äussere Umstände herbeigeführt wird. Ich bin jedoch froh, dass das nicht vor vier Jahren war, damals hat gerade die neue Pfarrerin ihr Amt angetreten, das wäre zu viel Wechsel aufs Mal gewesen.

Das ist ja schon der dritte Pfarrer, pardon, Pfarrerin in Ihrer Zeit als Präsident.
Ja, und alle sind sie ganz verschieden, Individualisten. Pfarrer Ulrich Knellwolf fing damals gerade an, Krimis zu schreiben und hat sich dann entschieden, sich vermehrt dieser Leidenschaft zu widmen. Mit Peter Wittwer kam ein ehemaliger Katholik zu uns, der die Ökumene und als ehemaliger Leiter der städtischen Stelle für Ausländerfragen den interreligiösen Dialog besonders pflegte. Renate von Ballmoos wiederum hat ein Interesse für neue Formen der Spiritualität. Auch sie, die erste Frau übrigens, ist eine Art Grenzgängerin wie die beiden Vorgänger.

Wie kommt es, dass Sie «Grenzgänger» wählten?
Das war ja nicht ich allein, da gab es eine Pfarrwahlkommission bei jeder Wahl. Dennoch: Ich bin skeptisch gegenüber Mechanismen in Institutionen, wo es eine Art Kanon gibt, was wie läuft. Das tendiert zum Ausgrenzen: Was gehört dazu, was demzufolge nicht? Ich habe gerne jemanden, der Grenzen ritzt. Wer massiv Grenzen überschritten hat, war nebenbei gesagt Jesus. – Es hat auch mit der Altstadt zu tun respektive mit der hohen Kirchendichte: Vier Kirchen auf kleinem Raum. Da muss es unterschiedliche Angebote, verschiedene Profilierungen geben.

Könnten Sie das noch etwas ausführen?
Ich sehe die Altstadt wie als eine Gemeinde an. Wenn also das Fraumünster einen traditionellen reformierten Wortgottesdienst anbietet, dann braucht es das nicht auch noch hier. In den Sonntagsgottesdienst kommen etwa zehn Personen aus dem Quartier und achtzig von ausserhalb. Sie kommen wegen der Prägung, wegen der Musik, auch Katholiken kommen. Als Peter Wittwer in Pension ging, haben wir realisiert, dass es wieder jemand Spezielles sein muss.

Haben Sie deshalb jemanden mit Interesse an Schamanismus gewählt?
Wir haben jedenfalls davon gewusst. Wobei es in unserer Kirche keine Schamanismus-Angebote gibt, die finden im Pfarrhaus oder am Rindermarkt 14 statt, für kleine Gruppen. Mich selbst interessiert dieser Zugang nicht, aber für andere finde ich ihn in Ordnung. Renate von Ballmoos erreicht neue Leute vor allem durch ihre neuen Formen von spirituellen Feiern. Die Rituale zu den Jahreszeiten sind beispielsweise sehr gut besucht, das hat ein Echo. – Mit jedem Pfarrwechsel wechseln die Leute: Die einen bleiben weg, Treue bleiben, Neue kommen dazu. Es braucht jedes Mal eine Umstellung. Jedes Mal entsteht eine neue Heimat.

Sie haben nicht nur Pfarrwechsel erlebt und mitgestaltet. Auch weitere Positionen sind neu besetzt worden.
Ja, so ist nach der Pensionierung des Sigristen Martin Salzgeber mit Rita Rabe eine Frau gekommen, die ein totaler Glücksfall ist. Ihr ist nichts zu viel, für Neues fängt sie Feuer. Auch die Nachfolge des in den Ruhestand getretenen Organisten Bernhard Billeter galt es zu regeln. Mit Christian Döhring kam ein Deutscher – dass er Katholik ist, haben wir erst später gemerkt. Er ist ein besonders guter Improvisator. Die «neue» Gemeindehelferin Edith Heiniger ist jetzt auch schon über zehn Jahre da.

Was Besonderes gab es sonst in Ihrer Zeit als Präsident?
Da war das Kirchgemeindehaus Hirschengraben 50. Dieses war stetig unternutzt, es hat einen grossen Saal, Küche, Büros. Weil ich den damaligen Kirchenratsschreiber gut kannte, wir gingen so periodisch zusammen eine Pizza Diavolo essen, erfuhr ich, dass die Landeskirche ein Haus suchte. Und so kam es, dass das Haus für fünfzig Jahre im Baurecht an die Landeskirche abgegeben wurde.

Mit welchen Folgen?
Zunächst bekam ich für eine Zeit auf der Gasse den Übernamen «Liquidationspräsident». Mit der Zeit kamen die Vorteile zum Tragen: Es gibt weniger Verwaltungsaufwand und als besonderer Gewinn kommt die Kirche viel besser zur Geltung. Wir machen heute alles in der Kirche.

Wie kann man sich das vorstellen?
Der Kirchenraum wird die ganze Woche genutzt, nicht nur am Sonntag. Es wird nichts «ausgelagert». So rückt die Kirche ins Zentrum des Gemeindelebens. Daraus ist Neues entstanden, etwa die ökumenische Seelsorge: Immer werktags von 14 bis 18 Uhr steht eine Seelsorgeperson für Gespräche zur Verfügung, ohne Voranmeldung. Dreissig Personen teilen sich diese Aufgabe, und das Angebot wird genutzt. Dann haben wir eine Leseecke eingerichtet mit bequemen Sesseln und Lektüre. Es ist auch immer eine freiwillige Person da, damit die Kirche unter der Woche offen gehalten werden kann. Weiter haben wir den «Mushafen» wieder eingeführt (in Anlehnung an die Tradition als Armenküche), wir machen das etwa fünf Mal im Jahr nach dem Gottesdienst. Zu diesem Zweck haben wir im Keller eine Küche einbauen können. Überdies finden in der Kirche Ausstellungen statt.

Neben personellen Veränderungen gab es bauliche Erneuerungen.
Ja, wir hatten die Turmsanierung, die nötig wurde, weil die Sandsteinplatten der Fassade brüchig wurden und eine Gefahr darstellten. 2007 kam dann die Kirchensanierung, für die es nach vierzig Jahren ebenfalls an der Zeit war: Licht, Audioanlage wurden erneuert, die besagte Küche eingebaut und so weiter.

Da war doch noch etwas mit dem Kirchengeläute?
Nun, es gab einige Reklamationen deswegen. Wir haben einiges gemacht, etwa bei den Turmfenstern eine Schalldämpfung eingebaut, die Anschlagstärke gedrosselt und weichere Klöppel anbringen lassen. Das Vollgeläut mit fünf Glocken etwa vor dem Gottesdienst ist allerdings immer noch laut. Es gibt beiderlei Reaktionen: Reklamationen, weil es laut ist, und sofort besorgte Anfragen aus der Nachbarschaft, wenn das Läuten einmal wegen eines Konzertes oder reparaturbedingt ausfällt.

Wie hat sich die Prägung der Predigerkirche entwickelt seit dem Weggang von Peter Wittwer, hat das Interreligiöse noch eine Bedeutung?
Als Leiter der Ausländerkommission hatte Peter Wittwer natürlich die unterschiedlichsten Kontakte, die für ein solches Engagement notwendig sind. Heute ist das nicht mehr ein Schwerpunkt. Wie gesagt, haben wir mehr Rituale. Zudem ist mit Pater Franz Müller ein katholischer Priester mit einer Achtzigprozentstelle an der Predigerkirche engagiert. Die Stelle wird von katholischer Seite finanziert. Da wird also die Ökumene gelebt. Es gibt eine gute Zusammenarbeit zwischen den zwei Pfarrpersonen, abgesehen von den Gottesdiensten machen sie praktisch alles gemeinsam.

Gab es Schwieriges in Ihrer Amtszeit?
Sicher war die siebzehn Tage dauernde Kirchenbesetzung in der Weihnachtszeit vor einem Jahr etwas Schwieriges. Es tippte aber auch Grundsatzfragen an. Soll man die Polizei holen oder sich solidarisieren? Schwierig war es auch deshalb, weil wir keine Lösung anbieten konnten, das wurde anderswo entschieden.

Was war erfreulich?
Alles, das Ganze war erfreulich. Auch das nicht überall Konventionelle wurde von anderen teils zuerst kritisch betrachtet und rückblickend dann als in Ordnung befunden, sogar als gut. Das freut mich natürlich.

Wie sehen Sie die Zusammenarbeit mit den anderen Kirchgemeinden?
Da müsste mehr möglich sein. Die vier sollten sich noch besser absprechen, wer was macht, statt alle alles. Das wird in Zukunft vermutlich verstärkt kommen.

Wie hat sich Ihr persönlicher Bezug zur Kirche verändert?
Wenn man sich irgendwo engagiert, wird es immer interessant, spannend. Andererseits sind meine Zweifel an der Institution grösser als zuvor. Alle Institutionen sind eine Gefahr für
den Kern, den sie weitergeben wollen. Was haben wir aus der Botschaft von Jesus gemacht, muss man sich fragen. Wenn man nur schon an die Trennung der Christen in verschiedene Konfessionen denkt.

Wie sieht es mit der Nachfolge aus?
Als Nachfolgerin stellt sich eine Person zur Wahl, die seit vielen Jahren in der Altstadt lebt, seit zwölf Jahren in der Kirchenpflege ist, hier als Liegenschaftsverwalterin wirkt und als Abgeordnete in der Zentralkirchenpflege, die also sehr gut vernetzt ist: Lisbeth Rüegg. Sie wird die erste Frau in diesem Amt sein.

Und Ihre eigene Zukunft in der Predigergemeinde?
Ich werde gerne im Forum Predigerkirche mitmachen, wo auch nicht Stimmberechtigte sich engagieren können.

Zum Schluss: Eine Anekdote bitte.
Es war im Pfingstgottesdienst, damals noch mit Pfarrer Ulrich Knellwolf, der gerade das Abendmahl vorbereitete, als er plötzlich zu erbleichen und erstarren schien. Ich eilte zu ihm hin und sah, wie sich aus den Blumengestecken zu beiden Seiten des Kelches Ameisenstrassen gebildet hatten, die im Messwein endeten. Der Gottesdienst musste unterbrochen werden, neuer Wein wurde geholt.
Das Steife, Traditionelle war mit einem Mal durchbrochen, die Ameisen waren ein echter Gewinn.

Interview: Elmar Melliger